Dieter Stöhr: „Gewartet, bis jemand meine Hand ergreift“
Foto: Roland Noichl
von Martin Foszczynski
Der genaue Tag, an dem er in die „große Waschmaschine“ geriet, will Dieter Stöhr, dem Vater der zweifachen Boulderweltmeisterin Anna Stöhr, nicht mehr einfallen. Nie vergessen wird er aber, dass es die rechte Hand war, die ihm das Leben rettete. Dreißig Jahre später sind die Möglichkeiten der Lawinenprävention unvergleichbar.
Zum Nachdenken: Null Zeit. Etwas tun: Vergiss es. Der einzige Gedanke, an dem sich Dieter Stöhr festhalten kann, während er mit einer Lawine den Hang hinunterdonnert: Irgendwie die Kontrolle behalten. Dann ist es plötzlich still. „Ein Gefühl wie ein dicker Polster aufs Gesicht“. Gerade noch locker genug, um zu atmen.
Das war vor über 30 Jahren. Heute ist der Tiroler 59 Jahre alt, arbeitet in der Landesforstdirektion und lebt im Raum Innsbruck. Er hat zwei Töchter – eine davon, Anna, erlangte als zweifache Boulder-Weltmeisterin weit über die heimische Kletterszene hinaus Berühmtheit. Die beiden sind jetzt etwa im selben Alter wie er, als er unter einer Lawine begraben wurde. Und vielleicht sind es auch sie, für die Dieter Stöhr diese Geschichte erzählt. Noch immer sind Lawinenerlebnisse oft ein Tabuthema. Weil man sich nicht erinnern möchte. Oder weil man Angst hat, als „unvorsichtig“ an den Pranger gestellt zu werden. „Stolz drauf bin ich nicht“, schickt auch Herr Stöhr voraus. „Aber vielleicht hilft es ja jemandem“.
Den Bergen trägt er nichts nach, das wird schon früh im Gespräch klar. Noch am selben Abend geht es für zwei Wochen auf Kletterurlaub an die Amalfiküste. Er ist nach wie vor viel in den Bergen unterwegs – früher oft mit den Töchtern, heute mit seiner Frau Karin, die damals ebenfalls mit von der Partie war.
Ja damals – wann war das eigentlich genau? 30 Jahre sei es jetzt her. Den Tag könne er auf keinen Fall mehr sagen, rund um Silvester müsste es gewesen sein. Seine Frau weiß es besser: „30. Dezember“, sagt sie ein. Der 30. Dezember 1985.
Ein perfekter Tag
Kein außergewöhnlicher Tag, wenn schon, dann außergewöhnlich schön: Herrlicher Schnee, wenig Wind, wunderbare Bedingungen zum Skitourengehen. Wie jedes Jahr fährt Dieter Stöhr mit Freunden über Silvester auf die Kuhwildalm nahe der Bamberger Hütte in den Kitzbüheler Alpen. Alle um die 30, gute Freunde, gute Skifahrer, erfahrene Bergler. Er selbst – in der Endphase seines Forstwirtschaftsstudiums – sei damals eigentlich mehr in Wien als in den Bergen zugegen gewesen. Zu Silvester aber, da war der Almenausflug Pflichtprogramm. Vier, fünf Tage in der Natur sein. Eine Gaudi haben. Durchatmen.
Der Tag beginnt schlichtweg perfekt. Eine Tour auf den Tristkopf ist geplant. Das Gebiet kennen die Freunde wie die eigene Westentasche. Der Aufstieg ist schon verspurt, der Gipfel „easy-cheesy“ erreicht. Frohen Mutes sei man losgegangen, nur eben schlecht informiert. Dieter Stöhr sagt, das sei damals normal gewesen: „Der Lawinenwarndienst gab fast jeden Tag einen „3er“ an – ganz ernst zu nehmen war das nicht. Was soll’s dachte man sich da oft“.
Detaillierte Infos wie heute, mit Messdaten und Gefahrenmustern, habe es damals nicht gegeben. Und selbst wenn: „Wir wären auf der Hütte sowieso nicht an sie rangekommen. Das war eine Zeit lang vor Handys und Smartphones. Man war viel stärker als heute auf die eigene Erfahrung angewiesen.“
Die eigene Erfahrung, das eigene Können – vielleicht habe er das damals ein wenig überschätzt, sagt der Tiroler: „Das Lawinenthema hat mich interessiert, ich habe mich viel damit beschäftigt. Vielleicht hat sich dadurch eine übersteigerte Selbstsicherheit herausgebildet.“ Dabei sei er sicher kein Draufgänger gewesen, keiner der das Risiko suchte. „Aber es waren schon auch andere Zeiten. Man musste ein bisschen „anzahn“, wollte sich keine Blöße geben – vor allem, wenn man mit Freunden unterwegs war.“
Und so stehen sie schließlich vor dem schicksalhaften Osthang. Mit viel Selbstsicherheit ausgestattet, jedoch mit wenig nützlichem Equipment. Das Gelände ist steil – 35, 40 Grad – aber nur zu Beginn. Nach dem obersten Hangteil wird es schnell flacher, insgesamt vielleicht 150 Höhenmeter, nicht mehr. Den steilen Hängen fühlte Dieter Stöhr sich gewachsen: „Es hat mich einfach gekitzelt, da runterzufahren. Auch wenn das Bauchgefühl vielleicht etwas anderes sagte.“
Davor habe man ein wenig diskutiert, die Lage besprochen. Die Schneequalität schien perfekt, es sprach letztlich nichts dagegen. Als erster fährt ein Kollege. „Er hat den Hang gequert und ist ein paar Mal gesprungen, um die Verhältnisse zu testen. Damals normal, rückblickend gesehen natürlich alles ein Blödsinn“, sagt Dieter Stöhr. Er selbst fährt als zweiter, die anderen warten oberhalb des Hangs.
Er springt ein erstes Mal, springt ein zweites Mal – da bricht die Schneedecke und beginnt abwärts zu grollen. Dieter Stöhr versucht zu entkommen und löst damit auch den restlichen Hang aus. Dann wird es richtig ungemütlich: „Aus dem Steilhang kamen richtige „Brecher“ mit zwei Metern Höhe hinunter. Mit mir ist es dahingegangen wie in der Waschmaschine“, sagt er. Zum Nachdenken: Null Zeit. Etwas tun: chancenlos. Irgendwie die Kontrolle behalten, schoss es ihm einzig durch den Kopf. Er habe versucht, zu „schwimmen“– mehr Reflex als Vorhaben – das sei auch ganz gut gegangen. Ob es irgendetwas gebracht hat, vermag er heute nicht zu sagen. Seine Hände steckten noch in den Schlaufen der Skistecken, als man ihn später ausgrub.
Eingegossen in Beton
Und dann? Als der Hang zum Stillstand gekommen und alles wieder ganz ruhig war? Was war das für ein Gefühl? „Ein komisches“, sagt Herr Stöhr. „Ich war vollständig verschüttet – es fühlte sich an, als wäre ich komplett gelähmt. Atmen konnte ich noch ganz gut – aber es war, als ob ein dicker Polster auf meinem Gesicht liegen würde.“
Komplett gelähmt, bis auf ein winziges Detail. Ein lebensentscheidendes. „Nur meine Hand fühlte sich nicht an wie Beton, die konnte ich frei bewegen. Sie ist ab der Handwurzel aus dem Schnee rausgestanden. Reiner Zufall. Es war die rechte, das weiß ich heute noch ganz genau“. Und mit der rechten Hand hat er dann gewunken. Und gewartet, bis sie jemand ergreift.
Etwa 10 Minuten dauerte es, bis die Gruppe vom Grat abgestiegen ist. Woran er in dieser Zeit fest glaubt, tritt tatsächlich ein. Jemand ergreift seine Hand und drückt sie. Das gibt ihm Sicherheit, während er gedämpfte Stimmen hört und spürt, wie jemand einen halben Meter höher über ihn drübergeht. Ob es seine heutige Frau war? „Das glaube ich eher nicht“, überlegt Herr Stöhr und nimmt der Geschichte ein Stück Kitschfaktor. Dafür fügt er ihr ein bisschen Slapstick hinzu: „Ich selbst hatte zwar eine Schneeschaufel im Rucksack, von der restlichen Gruppe aber nur einer – und das war der, der längst den Hang hinabgezischt war. Die anderen mussten mich mit den Händen ausgraben.“
Was waren seine ersten Worte, als er den Kollegen ins Gesicht blickte? „Ich habe gelacht“, sagt Herr Stöhr, und lacht auch jetzt – wie er während des Gesprächs überhaupt oft schmunzeln muss. „Aber das war wohl auch eine Schockreaktion“, fügt er hinzu.
Vom Erlebten lernen
Verarbeitet habe er das Erlebnis schnell – belastet habe es ihn in der Folge nie wirklich. „Wenn, dann vielleicht unterbewusst“. Seit der Verschüttung weiß Dieter Stöhr aber: „Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. Ein Restrisiko bleibt, auch bei guten Bedingungen, immer bestehen.“ Dazu brauche er nur in seinen Bekanntenkreis blicken. „Jeder, der seit Jahren Skitouren geht, hat schon mal eine brenzliche Situation erlebt.“
Und doch: Unter den heutigen Bedingungen, wäre er vor 30 Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in den Hang hineingefahren. Die tückische Frühwintersituation hätte man mit den jetzigen Diagnosemethoden wohl erkannt.
„Wir haben uns am lockeren Pulverschnee orientiert und dabei die eingeschlossene Schwachschicht übersehen. Möglicherweise hat sich davor auf der harten Harschschicht unter dem lockeren Neuschnee Raureif abgelagert. Heutige Lageberichte können so etwas erfassen.“
Und das Equipment: „Wir hatten gerade mal zwei Schaufeln dabei, und damit waren wir schon Exoten. So etwas hatte damals nur die Bergrettung!“ Mittlerweile sei man gescheiter, oder sollte es zumindest sein: „Wer heute nicht mit Schaufel, Sonde, Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS) und in abgeschiedenen Lagen mit Airbag losgeht, ist ein Depp. Aktivierte LVS-Geräte hatten auch wir dabei – damals bei weitem keine Selbstverständlichkeit.“ Den Lawinenlagebericht holt sich Herr Stöhr jeden Tag um halb acht Uhr morgens auf sein Smartphone. Die App des Tiroler Lawinenwarndienstes macht es möglich. Ähnliche aktuelle und regional zugeschnittene Services gibt es auch für viele andere Wintersportgebiete.
So geht Herr Stöhr auch heute gerne in die Berge. „Die Anna ist im Klettersport daheim – zwar geht sie manchmal auch gerne Skitouren mit, aber Extremalpinistin ist sie sicher keine.“ Ursula, die ältere Tochter, hingegen fahre ihm als leidenschaftliche Freeriderin regelrecht um die Ohren. Über das Erlebnis vor 30 Jahren habe er mit seinen Töchtern öfters gesprochen, ihnen hoffentlich ein Risikobewusstsein vermitteln können.
„Aber das ist eine andere Generation.“ Eine digitale, informierte.
Eine, die weiß, wo es langgeht. Und die sich hoffentlich daran hält.
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