David Lama: Die letzten Prozent
Wer große Träume umsetzen will, darf nicht auf Effizienz bedacht sein, meint David Lama. Ein gigantisches Sinkloch im Libanon bestärkte ihn in dieser Ansicht.
„Für ein Herzblutprojekt erlaube ich mir, den Aufwand außer Acht zu lassen.“
Ich steige daheim oft auf Berge, ohne wirklich alles zu geben, und trotzdem ist es ein gutes Erlebnis. Wer effizient sein will, wird sich selten hundert Prozent abverlangen. Das nach einem Schweizer Soziologen benannte Pareto-Prinzip besagt, dass man oft mit nur 20 Prozent Aufwand auch 80 Prozent der Ergebnisse erreichen kann. Bei Projekten, die an meiner Leistungsgrenze angesiedelt sind, denen ich mich mit Leidenschaft verschreibe, reicht diese Herangehensweise jedoch nicht einmal im Ansatz. Wer große Träume umsetzen will, darf nicht auf Effizienz bedacht sein. Für meine Herzblutprojekte erlaube ich mir, den Aufwand außer Acht zu lassen.
Seit dem Ende meiner Wettkampfkarriere gab ich mich damit zufrieden, im Klettergarten 80 Prozent meines Potenzials umzusetzen. Anders als beim Alpinismus bin ich beim Sportklettern nicht darauf bedacht, das Maximum herauszuholen. Denn meine wahre Leidenschaft gilt nicht kurzen Routen, sondern großen Wänden.
Im Libanon fand ich ein Vorhaben, das mich komplett in den Bann zog und meine Sichtweise änderte: Der Baatara Gorge ist ein ebenso spektakuläres wie magisches Sinkloch, in das ein Wasserfall 100 Meter hineinstürzt. Aus diesem wollte ich als Erster auf einer Linie von kleinen Leisten und Auflegern, die durch das gesamte, fast horizontale Dach führt, hinausklettern.
Ich konnte zwar bereits nach wenigen Versuchen in der Route alle Einzelzüge machen, tüftelte aber so lange weiter, bis alles perfekt schien. Bei meinen ersten Durchstiegsversuchen wollte sich der Erfolg trotzdem nicht einstellen. Ich hatte das Gefühl, nah dran zu sein, stürzte aber immer wieder an den unterschiedlichsten Stellen. Es nervte mich, die Früchte meiner Arbeit nicht ernten zu können und so knapp vor dem Ziel zu scheitern. Mir wurde bewusst, dass es nun darauf ankommen würde, die letzten fehlenden Prozent herauszukitzeln.
Ich begann daher mein Projekt nochmals von vorn: Ich suchte nach neuen Griff- und Trittmöglichkeiten, hinterfragte alle bisherigen Lösungsansätze und konzentrierte mich ganz bewusst auch auf die leichteren Wandpassagen, die ich bis dahin vernachlässigt hatte. Ich plante den kompletten Durchstieg so konkret wie nur möglich und ging jedes Detail im Kopf durch.
Mein Projekt, dieses filigrane Mosaik aus vielen kleinen Details, fügte sich immer mehr zusammen. Ich bekam neues Selbstvertrauen und fühlte mich bereit, gute Durchstiegsversuche machen zu können. Ich kletterte den unteren, leichten Teil der Route schneller und kraftsparender als zuvor und kam in einen Flow, der mich durch das Dach bis zum letzten Griff trug. Meine Haut an den Fingerspitzen war am Ende, aber ich war überglücklich, die Route geschafft zu haben.
Die Herangehensweise, trotz greifbar scheinendem Erfolg das letzte bisschen Verbesserungspotenzial zu suchen und daran zu arbeiten, war bei diesem Projekt der Schlüssel zum Erfolg. Im Nachhinein war es allerdings nicht der Erfolg, sondern die bedingungslose Hingabe, die mir in Erinnerung bleiben wird.
Wer sich überzeugen will, dass David seine Worte ernst meint: Das Video seiner Erstbegehung „Avaatara“ (9a) in der Baatara Gorge im Libanon ist Beweis genug.
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