David Lama: Über Balance
Nicht nur auf einem Felsgrat, auch in vielen Lebenslagen ist das Gleichgewicht oft schwierig zu finden, sagt David Lama (erschienen im Bergwelten Magazin April/Mai 2019).
Mein Freund und Kletterpartner Conrad Anker brachte es in Sachen Doppelverpflichtungen auf den Punkt: „Das ganze Leben dreht sich um Balance. Zu viel Arbeit brennt aus, zu viel Vergnügen macht träge.“ Wie so oft ist die goldene Mitte das erstrebenswerte Maß, aber es ist zweifellos kein leichtes Unterfangen, die eigene Ruhe durch Gleichgewicht und nicht durch Stillstand zu erreichen.
Wie man Gleichgewicht definiert, hängt stark von der eigenen Persönlichkeit ab. Wo liegt die Schnittmenge von Passion und Bestimmung? Wie lassen sich die Verpflichtungen vereinbaren?
Arbeit und Familie, Beruf und Freizeit, jeder sieht sich mit Ansprüchen von unterschiedlichen Seiten konfrontiert. Es mag für mich als alleinstehenden Bergsteiger nicht um die klassische Work-Life-Balance gehen, aber auch als Sportler findet man sich schnell in einem Netz von Verpflichtungen wieder, das die gewünschte Balance herausfordert. Expeditionsplanungen, Training oder Produktentwicklung bringen mich in Situationen, in denen ich mich in meiner Freiheit eingeschränkt fühle.
Ich versuche mir in solchen Momenten vor Augen zu führen, dass sich Gleichgewicht nicht auf einen Split zweier gleicher Teile beschränkt, sondern die ausgewogene Gewichtung einzelner Teile ist. Die Parameter, anhand derer die Gewichtung auszumachen ist, können variieren und unterscheiden sich stark je nach persönlichen Vorlieben.
Natürlich denkt man sofort an die Zeit als Bemessungsmittel, aber auch Aspekte wie Leidenschaft und Intensität bestimmen die eigene Gewichtung. Demnach kann ein Ereignis, das zeitlich nur einen Bruchteil einer Verpflichtung einnimmt, durch intensives Erleben eine weitaus höhere Gewichtung erfahren.
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Vor ein paar Jahren war ich im Zuge einer Kinotour zwei Wochen unterwegs. Geplant war aus logistischen Gründen, die halben Tage zwischen den Premieren in den jeweiligen Städten zu verbringen, aber als ich nächtens via Internet vom perfekten Bergwetter in der nur zwei Stunden entfernten Heimat erfuhr, machte mich das, in meinem Stadthotel sitzend, unrund.
Spontan fuhr ich um Mitternacht nach Hause, um am Morgen in die Berge gehen zu können. In Summe waren es wohl nicht mehr als ein paar Stunden im Schnee, aber die innere Balance war wiederhergestellt und eine Rückkehr zu den Verpflichtungen mit einem guten Gefühl möglich. Der Aufwand hatte sich für mich ausgezahlt, auch wenn man das – rein zeitlich gesehen – bezweifeln hätte können.
Gewichtung hin oder her, manchmal kommt man an einen Punkt, an dem die Vereinbarkeit zwischen eingegangenen Verpflichtungen und den eigenen Wünschen nicht mehr gegeben scheint. Dann ist Ehrlichkeit mit sich selbst und seinen Zielen gefragt sowie ein klarer Blick darauf, was einem im Leben vorrangig ist.