Die goldene Kuhschelle
Eine Mischung aus „Indiana Jones“ und „Sesam, öffne dich!“ auf der Alp – diese entzückende Sage aus dem Berner Simmental handelt von einem liebestrunkenen Bauernburschen, der die falsche Wahl getroffen hat.
Im Berner Simmental, wo die hübschesten Holzhäuschen der Welt stehen, lebte vor langer Zeit ein junger Bauernbursch. Der war todunglücklich, denn er hatte sich in ein Mädchen namens Liesli verliebt. Tag und Nacht lief er hinter ihr her, sodass die Leute scherzten, sie ziehe ihn an einer unsichtbaren Schnur. Aber sie wollte nichts von ihm wissen, denn sie war in einen anderen verliebt.
Eines Tages stieg der Bursche trübselig zur Alp hoch, um in der Bergwelt für eine Weile seinen Liebeskummer zu vergessen. Als er zu einem Brunnen kam, stieß er auf einen verrosteten Schlüssel im hohen Gras. Kurz darauf erblickte er zu seiner Verwunderung in einer Felswand ein Loch, das genau die Form des Schlüssels hatte. Er steckte ihn neugierig hinein – und siehe da: die Wand öffnete sich und ein dunkler Gang starrte ihm entgegen. Er trat mutig ein und gelangte nach kurzer Zeit in zwei große Gemächer. Im zweiten versperrte ihm ein tief herabhängender Felszacken den Weg, aber er kroch unten durch und gelangte in einen dritten Saal. Darin saß eine altmodisch gekleidete Jungfrau und lächelte ihn an. Zu ihren Füßen stand eine Kiste voll Goldmünzen, neben ihr an der Wand hing eine goldene Kuhschelle.
Die Jungfrau brach schließlich die Stille. Sie erklärte, dass sie so lange in dieser Felsenkammer verwünscht sei, bis sie ein freiwilliger Erlöser finde und sich in sie verlieben würde. Nun solle er klug wählen. „Du kannst entweder die goldene Kuhschelle oder die Goldkiste nehmen. Wenn du aber mich wählst, bekommst du die anderen zwei Schätze mit dazu.“
Der Bursche dachte aber immer noch ans schöne Liesli im sonnigen Simmental und sah nicht, dass die altmodische Jungfrau schöner war als eine Weide voll Alpenrosen. Daher entschied er sich für die goldene Glocke und lief mit ihr den Gang zurück. Noch lange hallte ihm die Klage der verschmähten und unerlösten Jungfrau nach. Kaum trat er aus dem finstern Gang in den hellen Tag und auf die Alp hinaus, schloss sich hinter ihm der Felsen wieder. Er aber tat einen überlustigen Jauchzer und eilte mit der goldenen Kuhschelle vor Freude springend talabwärts. Nun musste ihn das Liesli doch heiraten, wenn er für ihre Leitkuh eine funkelnde Schelle aus Gold mitbringen würde. Mit welchem Stolz wird sie im nächsten Frühling mit ihren großen, goldgelben Simmentaler Kühen zur Alp fahren.
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Aber wie erschrak er, als er ins Haus seiner Liebsten eintrat. Sie saß am Mittagstisch und neben ihr ein strammer Mann. Und als er ihr sein Erlebnis erzählte und die goldene Kuhschelle herzeigte, antwortete sie kühl: „Ich bin jetzt verheiratet, du kommst zu spät!“
Da wurde es dem Burschen sterbensübel und er torkelte davon. Und wie er so todtraurig dahinging, fiel ihm die Felsenjungfrau ein, die so schön und so unglücklich war und die er so leicht hätte gewinnen können. Rasch kehrte er auf die Alp zurück und ging zur Felswand. Aber wie er auch suchte, er konnte weder den rostigen Schlüssel wiederfinden, noch sah er das Schlüsselloch in der Felswand. Traurig irrte er nun Tag und Nacht auf den Alpenweiden herum, und dabei läutete er in einem fort seine goldene Kuhschelle.
Eines Tages kam er in eine abgelegene Alp, die er vordem noch nie gesehen hatte. Dort sah er eine Sennhütte, vor der ein steinalter Mann Holz spaltete. Er ging todmüde hin und fragte den graubärtigen Alten, ob er wohl bei ihm nächtigen dürfte. Dabei erzählte er ihm sein unglückliches Schicksal. Da erhob der Alte auf einmal die Axt und rief zornig: „Dann bist also du der Frevler mit dem feigen Herzen! Die Felsenjungfrau ist meine eigene Tochter, die schönste Frau weit und breit. Du hast sie verschmäht und unerlöst gelassen – verflucht sollst auch du sein!“
Schreckensbleich machte sich der Simmentaler Bursche davon. Aber von der Zeit an sah man ihn weder im Simmental noch auf der Alp jemals wieder. Nur in stillen, sternenhellen Nächten glauben manche den Klang einer einzelnen Kuhschelle zu vernehmen.
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(Gekürzte Fassung. Quellen: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915; www.sagen.at)
Die Sage heute: Das Simmental – „das grünste Tal Europas“ – erstreckt sich von der Lenk bis Boltigen und ist mittlerweile touristisch gut erschlossen. Nach ihm wurde die Rinderrasse „Simmentaler“ (auch „Simmentaler Fleckvieh“) benannt, das seit 1.400 Jahren in der Westschweiz gezüchtet wird.
Tourentipp
Bergwiesen, Wasserfälle, Felsstufen: Auf dieser herrlichen Wanderung, die in Lenk startet, lernt man die ganze Schönheit des Simmentals kennen. Kaum zu glauben, dass der unglücklich verliebte Bauernbursche aus der Sage darin todtraurig herumgeirrt ist.