Krafteinwirkung I: Über Belastungen bei Stürzen
Was müssen Seil, Bandschlinge, Karabiner und Haken eigentlich „aushalten“? Welche Belastungen können beim Bergsteigen und Klettern überhaupt auftreten? Die Sicherheitsexperten Peter Plattner und Walter Würtl verschaffen uns im ersten Teil der Serie einen Überblick.
Einige Kommentare zu unseren letzten Beiträgen rund um das Thema Standplatz haben sich auf die Kräfte bezogen, die beim Klettern auftreten können. Leser meinten etwa, „dass es schon sicherer ist, wenn eine Standplatzschlinge 22 kN aushält“ oder „dass Bandschlingen aus Dyneema problematisch sind, weil sie früher reißen als solche aus Polyamid“.
Es ist eine super Sache, wenn sich Kletterer auch mit den technischen Hintergründen auseinandersetzen und sich ihre eigenen Gedanken dazu machen. Das ist ein wichtiger Schritt zum eigenverantwortlichen Bergsteigen! Seit Jahren ist aber einiges an Halbwissen in Umlauf, das gebetsmühlenartig wiederholt und teilweise immer noch weitergegeben wird. Obwohl einschlägige Literatur, diverse Webseiten und Bedienungsanleitungen etwas anderes nachvollziehbar erklären, werden einige solcher liebgewonnenen Meinungen und „Aufreger“ nicht gründlich genug hinterfragt.
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Deshalb versuchen wir mit einigen dieser Meinungen aufzuräumen und geben gleichzeitig einen Überblick zu den tatsächlich wirkenden Kräften beim Klettern. Gleich vorweg: Wir nennen es nicht „Sturzphysik“, denn bei einigen unserer nachstehenden Ausführungen werden jedem Ingenieur die Haare zu Berge stehen. Aber wir möchten keine Physiker sein, sondern einfach nur darstellen, worauf wir beim Klettern und den dabei auftretenden Kräften achten müssen.
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Kilonewton
Bei einem Sturz entstehen Kräfte, die auf unseren Körper und das Material der Sicherungskette (Gurt, Seil, Karabiner, Haken, ...) wirken. Weil sich die meisten von uns unter der offiziellen Einheit der Kraft – dem Newton (abgekürzt N) – wenig vorstellen können, rechnen wir das ganz einfach in die Masse-Einheit Kilogramm um: 1 Newton entspricht 0,1 Kilogramm. Das auf den meisten Bergsportprodukten angegebene kN steht für Kilonewton und entspricht 1.000 Newton oder eben 100 kg. Wenn auf vernähten Bandschlingen 22 kN zu lesen ist, bedeutet das, dass sie rund 2,2 Tonnen aushalten.
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Normen
Auf dem Material angegebene Werte orientieren sich an Europäischen Normen. Diese müssen bei der „Persönlichen Schutzausrüstung“ (= PSA) als Mindestanforderung erfüllt sein, damit ein Produkt verkauft werden darf. Bei einem normalen Basis-Karabiner verlangt die entsprechende Norm zum Beispiel, dass der Karabiner in Längsrichtung 7 kN (700 kg) aushält, wenn der Schnapper offen ist. Das ist auch in der Praxis relevant, wenn etwa der Karabiner am Fels aufschlägt und der Schnapper im Moment der höchsten Belastung ganz kurz geöffnet ist – solche Karabinerbrüche gibt es regelmäßig.
Der auf dem Foto abgebildete Karabiner hält 23 kN (Längsrichtung), 8 kN (Querrichtung), 9 kN (Längsrichtung-Schnapper-offen) aus. Die dazugehörige Expresschlinge ist auf 22 kN geprüft. 0082 ist übrigens die Identifikationsnummer des zertifizierten Prüfhauses, das für die Abnahme des Produkts zuständig war.
Wenn ihr im Bergsportfachgeschäft eures Vertrauens neben den 4,90€-Schnappern einen um 13,60€ seht, erklärt sich die Differenz oft durch einen Blick auf die Werte zu den sogenannten Bruchkräften. Stehen bei „Schnapper-offen“ 9 oder 10 kN, hält der Karabiner bei dieser Belastung mehr aus – ist in diesem Punkt also „besser“. Ganz allgemein kann man festhalten: Sicherere Ausrüstung kostet ganz allgemein auch mehr. Allerdings benötigen auch die besten Produkte freilich kundige Anwender. Das kann man nicht oft genug betonen.
Unser Körper
Unser Körper ist zweifelsohne eine ziemlich geniale Konstruktion, aber – ebenso wie auch die Ausrüstung – „bricht“ er irgendwann. Beim Bergsport nimmt man an, dass er kurz 12 kN (1,2 Tonnen) aushält, bevor er „kaputt“ geht. An diesem Wert orientieren sich fast alle Überlegungen und Normen im Bergsport. Im Klartext: Bei Belastungen über 12 kN brauchen wir uns keine Sorgen mehr darüber zu machen, ob das Material bricht oder nicht – wir sind dann nämlich mit an ziemliche Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit tot. Wie überall gilt: Das schwächste Glied einer Kette ist entscheidend – und das ist bei unserer Sicherungskette manchmal auch der eigene Körper.
Fangstoß und Dynamik
Die höchste Belastung, die bei einem Normsturz am Anseilpunkt des Stürzenden wirken darf sind darum auch 12 kN (1,2 Tonnen). Diese Fangstoßkraft („Fangstoß“) wird erreicht, weil das Seil elastisch ist und sich bei einem Sturz dehnt – es wirkt dynamisch. Denselben Normsturz in ein statisches Seil (Stahlseil, Bandschlinge,...), das sich eben nicht dehnt, würden zunächst einmal wir nicht überleben, in weiterer Folge würde das Material (Gurt, Seil, Haken, ...) brechen. Das will heißen: Die auftretenden Kräfte werden durch „Dynamik“ reduziert.
Als bestes Beispiel hierfür dient das Klettersteigset: Der Fangstoßdämpfer reduziert die Belastung auf den Körper bei einem Sturz auf circa 6 kN (600 kg), indem er beginnt aufzureißen. Bei einem klassischen Vorsteigersturz wirken gleich mehrere Dinge dynamisch, also kraftreduzierend:
- das Seil dehnt sich,
- durch manche Sicherungsgeräte läuft beim Bremsen Seil durch (gerätedynamisch) oder/und
- der Sichernde wird zur Wand hingezogen (körperdynamisch).
Kräftereduktion wird im Bergsport also durch „eine Verlängerung des Bremswegs“ erreicht. Im weitesten Sinn ist das auch der Grund dafür, warum Normprüfungen (mit 80 kg Eisenmasse) viel härter ablaufen als dies in der Praxis möglich wäre. Stürzt nämlich ein menschlicher Körper ins Seil, verformt er sich, was den Sturz „weicher“ macht.
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Kräfte
Betrachten wir den Vorsteigersturz in eine Zwischensicherung chronologisch:
- Der Kletterer stürzt.
- Das Seil spannt sich, bis die entstehenden Kräfte schließlich am Sicherungsgerät ankommen.
- Durch die bremsende Kraft der Sicherung einerseits und den Sturzzug andererseits dehnt sich das Seil.
- Im Moment der höchsten Seildehnung wirken die größten Kräfte auf das Seil, die Zwischensicherungen, den Standplatz, die Partnersicherung und auch auf den Stürzenden.
Achtung: An der letzten Zwischensicherung summieren sich die Kräfte, da wir auf der einen Seite den Sturzzug und auf der anderen Seite die Kraft haben, die durch die Sicherung entgegengebracht wird. Vernachlässigt man modellhaft die Seilreibung, wirken dort bei Fixpunktsicherung mit Halbmastwurf Werte um die 7 kN (700 kg), wobei circa die Hälfte davon, also 3,5 kN (350 kg), auf den Körper des Stürzenden beziehungsweise auf die Sicherungsseite wirken.
Teil 2
Im zweiten Teil der Serie verraten Peter Plattner und Walter Würtl, wie man die Belastungen bei einem Sturz möglichst gering halten kann und welche Kräfte außerdem in den Stand und beim Abseilen wirken.