Loslassen auf Tibetisch: Der Opferplatz Shivatsal
Wer den heiligen Berg Kailash in Tibet umrundet, kommt sehr wahrscheinlich auch am Shivatsal vorbei. Shivatsal? Was das ist? Ein Haufen Klamotten – zumindest auf den ersten Blick. Dahinter steht allerdings eine wunderbare Symbolik. Shivatsal, das ist die Lehre vom Loslassen und Weitergehen.
Wir sind nur noch knapp 300 Höhenmeter vom höchsten Punkt unserer Route entfernt, dem Dölma La-Pass auf 5.650 m entlang der Kailash-Kora, der Umrundung des heiligen Bergs Kailash in Tibet. Ich traue meinen Augen kaum, als ich plötzlich haufenweise Kleidungsstücke in der weitläufigen Ebene erblicke. Vernebelt mir die Höhe die Sinne? Oder habe ich am Vorabend zu viel Roksi erwischt, jenen selbstgebrauten Schnaps, den die Nepalesen allabendlich aus dem jeweils nächsten Dorf holen?
Weder noch – die anderen sehen es auch: Hosen und Hemden, Haarlocken und Teddybären, Kinderschuhe und Kleider. Willkommen am Shivatsal! Auf über 5.000 m liegt er, dieser unwirklich anmutende rituelle Opferplatz – mitten im Nirgendwo.
Was es damit auf sich hat? Am Shivatsal sehen sich buddhistische Pilger dazu aufgefordert, etwas zu verabschieden. Eine verlorene Liebe etwa, einen unliebsamen Charakterzug oder eine verstorbene Bezugsperson – kurzum: etwas, von dem man sich zu trennen bereit ist. Damit dieser Lösungsprozess nicht rein geistiger Natur bleibt – und um die innere Bereitschaft zur Verabschiedung zu demonstrieren –, wird am Shivatsal etwas abgelegt, das symbolisch für jenen Teil steht, den man hier zurücklassen möchte. Das kann ein Kleidungsstück, ein Stofftier, eine Haarlocke oder sogar tröpfchenweise Blut sein.
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Loslassen und Weitergehen
Damit aber endet der Trennungsprozess noch nicht. Es geht nicht nur ums Loslassen, sondern auch ums Weitergehen. Shivatsal ist der Beginn eines Kreislaufs, das Sterben vor der Wiedergeburt. Der Dölma La-Pass steht schließlich für den Übergang in ein neues Leben – genauso, wie der Shivatsal für Teile aus dem alten Lebens steht. Und während man dort etwas zurücklässt, fordert der Dölma La-Pass dazu auf, hier nicht stehen zu bleiben und zurückzublicken, sondern weiterzugehen: In die Zukunft und in einen neuen Lebensabschnitt.