Der sagenhafte Gesar
Foto: Roland Vorlaufer
König, Held und Weiser: Keine Figur prägt die Sprache, Kultur und Religion Zentralasiens so sehr wie der mythische Herrscher Tibets.
Autor: Reinhold Messner für das Bergwelten Magazin Jänner 2015
An einem regnerischen Nachmittag im Herbst 1981 kaufte ich bei der Galerie Koller in Zürich eine feuervergoldete Bronzefigur aus Tibet, die Ling Gesar darstellt. Die Entdeckung dieser Figur in einem Schaufenster war einer jener Zufälle, denen wir später gerne eine schicksalhafte Bedeutung zuschreiben.
Meine beiden ersten Tibet-Reisen, 1980 und 1981, hatten einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Noch aber wusste ich nichts von der Gesar-Sage, dem großen Epos Zentralasiens, wenngleich ich seit zehn Jahren Tibetica gesammelt hatte. Nachdem ich die Figur erworben und sie zu Hause aufgestellt hatte, begann ich in Tibet nach ihrem Ursprung zu forschen. Und ich sammelte alles zu Gesar, was auf dem Markt angeboten wurde, als ginge es um das Erbe Tibets. Der Glaube und die Ausstrahlung der Menschen auf dem „Dach der Welt“ beeindruckten mich mehr und mehr.
Für die Tibeter ist Gesar ihr Held, wie Siegfried in der Nibelungensage: Er übersteht alle erdenklichen Proben – in der Schlangenhöhle, Feuersbrunst, Wüste – und wird damit zum König seines Volkes.
Im Sommer 1986 reiste ich erneut nach Tibet, diesmal für drei Monate. Mein Ziel war es, Osttibet zu durchqueren, wo ich hoffte, Ling zu finden – den Ort, den Gesar in seinem Adelstitel geführt hatte. Ling wird in dem Epos als jene Stätte genannt, wo er als der Königssohn meist lebte. Er war gleichzeitig Held, König und Weiser und sorgte in kriegerischen Auseinandersetzungen für Recht, Ruhe und Frieden.
Diese Figur ist immer noch mit Visionen und Prophezeiungen verbunden, die Erzählungen über ihn sind also ein wichtiger Teil der tibetischen Kultur – mit ihren Epen und Liedern, ihrer Sprache und Religion.
Das Gesar-Epos lebt heute auch in Baltistan in Pakistan weiter, in der Solo Khumbu-Region in Nepal, längs der Seidenstraße und überall dort, wo Tibeter einst ihre Heimat hatten.
Little Karim, ein Balti Träger, der mich zu den „leuchtenden Bergen“, den Gasher-brums im Karakorum, nach Pakistan begleitet hat, kannte das Epos auswendig und sang Teile daraus bis tief in die Basislager Nächte hinein.
Auch er aber konnte mir den Ort Ling nicht benennen. Lag dieser vielleicht im Norden der Chang-Tang-Wüste in Tibet, in einem Palast am Fuße des Kuen-Lun-Gebirges, wo „1.000 Freuden“, Gesars Lieblingsfrau, auf ihren Helden wartete?
Wir wissen es nicht. So wenig wir wissen, ob er Wirklichkeit oder nur Legende war, denn Ling, fand ich später heraus, ist überall. In Schloss Juval habe ich den Festraum in „Saal der 1.000 Freuden“ umbenannt und dort meine Gesar-Sammelstücke untergebracht.
Reinhold Messner, geb. 1944 in Brixen, stand als erster Mensch auf allen 14 Achttausendern der Erde. Er ist erfolgreicher Buchautor und baute das Messner Mountain Museum an mittlerweile sechs Standorten in Südtirol auf. Im Bergwelten Magazin schreibt er als Kolumnist regelmäßig über alpine Geschichte(n).
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