Peter Paal: „Wandern ist der unfallträchtigste Bergsport“
Peter Paal ist ein viel beschäftigter Mann: Der 47-jährige Südtiroler ist Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin, trägt das Diplom der Alpin-, Notfall- und Sportmedizin und sitzt dem Österreichischen Kuratorium für Alpine Sicherheit als Präsident vor. Doch am liebsten ist er draußen und oben unterwegs, sofern es seine Zeit zulässt. Ein Gespräch über Risiken im Bergsport, welche Auswirkungen der aktuelle Winter auf die alpine Sicherheit hatte und warum er die Berge gegen das Meer tauschen würde.
Bergwelten: Lieber Peter, du hast im Juni 2020 Karl Gabl als Präsidenten des Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit abgelöst. Wofür steht das Kuratorium für Alpine Sicherheit?
Wie der Name schon sagt ist das Österreichische Kuratorium für Alpine Sicherheit (ÖKAS) eine Plattform für Sicherheit in den Bergen. Innerhalb des Kuratoriums gibt es zahlreiche Mitgliederorganisationen: Angefangen bei den Alpinen Vereinen (Bergfreunde, Alpenverein, etc.) und der Alpinpolizei über Rettungsorganisationen wie die Österreichische Bergrettung oder den Christophorus-Flugrettungsverein bis hin zu den österreichischen Skiliftbetreibern, dem Ski- und Snowboardverband, dem Bergführerverband, aber auch Interessensgruppen aus der Industrie und dem Handel. Im Rahmen dieser Plattform versuchen wir die alpine Sicherheit in Österreich zu erhöhen. Das ist mir sowohl beruflich als auch persönlich ein großes Anliegen. Insofern habe ich mich natürlich sehr gefreut, dass ich diese Funktion übernehmen durfte.
Und wie sieht dein Aufgabenbereich als Präsident aus?
Im Grunde nimmt der Präsident eine moderierende Funktion ein: Er streckt seine Fühler im Netz der Mitgliederorganisationen aus, sodass er neue Entwicklungen wahrnimmt und diese dann auch über das Kuratorium vertreibt. Neben der alpinen Unfallforschung sind die Alpinmesse und das Alpinforum in Innsbruck zwar die bekanntesten Aufgabenbereiche des ÖKAS, doch für die aktuelle Legislaturperiode haben wir drei Theme-Schwerpunkte festgelegt: Kommunikation, Prävention und Forschung. Wir wollen unsere Kommunikation noch mehr verstärken – sowohl analog als auch digital. Im Sinne der Prävention sind wir gerade dabei neue Sicherheitskonzepte auf den Tisch zu bringen und in puncto Forschung geht es uns vor allem darum, dass man nicht immer das Ewiggleiche wiederkäut, sondern eben auch neue Entwicklungen im Bergsport, wie das Thema E-Bike, aufgreift und Präventionsempfehlungen entwickelt.
Im Bereich Kommunikation haben sich die Print-Produkte des ÖKAS, wie das „Analyse:Berg“-Magazin oder die „Berg-Fibeln“ ja durchaus bewährt.
Das verdanken wir mit Sicherheit allen Organisationen und Experten, mit denen wir bei der Erstellung der Fibeln eng zusammenarbeiten. In diesem Zusammenhang muss natürlich Peter Plattner genannt werden, der vielen Lesern als ehemaliger Chefredakteur vom „berg und steigen“ bekannt ist. Er war bis vor kurzem Interims-Geschäftsführer des ÖKAS und ist jetzt als Projektleiter und Chefredakteur fürs „Analyse Berg“ tätig. Gemeinsam planen wir eine neue Fibel zu Seiltechnik und Knotentechnik, die auch digital und mehrsprachig aufbereitet werden soll.
Mehrsprachig?
Die größte Herausforderung im Rahmen der Präventionsarbeit ist es, all jene Menschen zu erreichen, die in die österreichischen Alpen kommen aber nicht unsere Sprache sprechen. Für diese Gästesparte sind die Berge eher eine Art „Spielplatz“ und sie sehen in ihnen nicht die potentiellen Gefahren. Allerdings machen die Gäste über ein Drittel aller Menschen aus, die an alpinen Unfällen beteiligt sind. Und diese Menschen gilt es abzuholen – da bringt es nichts, wenn man irgendwo in der Hotellobby ein Buch auflegt! Deshalb der neue Ansatz einer mehrsprachigen Online-Plattform: Per Mausklick können die Gäste auf eine Auswahl von Winter- und Sommertouren für ihre Urlaubsregion zugreifen, die an die täglichen Bedingungen (Wetter, Schneelage, Lawinengefahr, etc.) angepasst sind.
Wenn wir von Alpinunfällen sprechen: Was sind denn die Hauptursachen für Unfälle im alpinen Gelände?
Zunächst muss man zwischen der Sommer- und Wintersaison unterscheiden: Im Winter machen Skiunfälle einen Großteil der Unfälle aus. Prominent sind natürlich Lawinenunfälle, die die Öffentlichkeit und Medien sehr beschäftigen. Im Durchschnitt zählen wir 30 Lawinentote pro Saison, die Zahl der Unfälle im gesicherten Skigebiet ist ein Vielfaches davon. Weitere Unfälle ereignen sich beim Schneeschuhwandern, das gerade an Popularität gewinnt. Und dann gibt es noch Erfrierungsverletzte die im Krankenhaus behandelt werden müssen, diesen Bereich haben wir letzthin genauer analysiert: In den letzten 15 Jahren verzeichneten wir in Österreich zwei bis drei schwere Erfrierungsverletzte pro Saison. Diese Menschen haben sich häufig deswegen schwere Erfrierungen zugezogen, weil sie am Berg die Orientierung verloren haben und verloren gegangen sind. Glücklicherweise sind schwere Erfrierungen heutzutage eine Seltenheit, da die Achtsamkeit großteils vorhanden und die Ausrüstung sehr gut geworden sind.
Welche Sportarten bergen dann im Sommer ein hohes Unfallrisiko?
Zwischen Ende April und Anfang November finden sich die drei große Unfalltreiber: Das Wandern, das Klettern und das Biken. Wobei das Wandern ganz klar an der Spitze steht. Dafür gibt es vorwiegend zwei Gründe: Sofern Unfälle im Aufstieg passieren sind sie vorwiegend auf Herzinfarkte oder Schlaganfälle zurückzuführen. Im Abstieg ist es dann das Fehlen der Konzentration, aufgrund mangelnder Kondition oder auch schlechter Sichtverhältnisse. Selbst ein kleiner Stolperer kann zu einem Sturz führen und somit fatale Folgen haben. Beim Klettern ist besonders auffallend, dass das Bouldern wesentlich unfallgefährdeter ist als das Eis- oder Felsklettern. Kommt es in diesen Bergsportdisziplinen allerdings zu Unfällen, dann sind sie meist mit einem schweren bis tödlichen Ausgang verbunden. Aber im Grunde sind Unfälle beim Eis- und Flesklettern viel seltener.
Das ist allerdings überraschend: Man würde ja annehmen, dass das Unfallrisiko beim Eis- oder Felsklettern wesentlich höher einzuschätzen ist als es beim Bouldern oder Wandern der Fall ist. Passieren Unfälle häufiger, je geringer das Risiko der jeweiligen Bergsportart ist?
Ich berufe mich in meinen Aussagen ja immer auf die Daten des ÖKAS, die wiederum auf den Daten der Alpinpolizei aufbauen. Und genau darin liegt unser Problem: Daten entstehen nur dann, wenn Menschen einen Hilferuf an die Leitstelle absetzen, dadurch eine professionelle Rettungskette aktiviert wird und somit die Verunfallten von der Alpinpolizei erfasst werden. Bouldern ist in diesem Datensatz viermal unfallträchtiger als Eis- oder Felsklettern. Aber nie tödlich. Beim Mountainbiken ist es wiederum so, dass sich die Zahl der Unfälle in den letzten 10 Jahren verdreifacht hat. Und dabei ist der E-Bike-Trend noch gar nicht mitgezählt. Seit 2021 haben wir jetzt aber einen neuen Datensatz für E-Bike-Unfälle bei der Alpinpolizei eingegeben, sodass wir diese Unfälle auch getrennt erfassen können.
Die große Unbekannte ist also die Gesamtzahl der Menschen, die sich in den Bergen bewegen?
Genau so ist es. Auch wenn wir davon ausgehen können, dass es risikoärmere und risikoreichere Sportarten gibt, liegt immer dasselbe Problem vor: Wir kennen den Teil der Verletzten und Toten pro Sportart, aber wir kennen nicht die Zahl der Gesamtnutzer. Wir können nicht sagen, wie viele Menschen wirklich im alpinen Gelände unterwegs sind. Vermutlich ist Wandern aber deshalb die unfallträchtigste Sportart in den Bergen, weil es von sehr vielen Menschen ausgeübt wird. Dafür muss man keine besonderen Fertigkeiten mitbringen, ganz im Gegenteil zum Eisklettern.
Das deckt sich auch mit der Beobachtung, warum die meisten Klettersteigunfälle im leichten Gelände passieren.
Hier zeichnet sich Ähnliches ab: Das Klettersteiggehen ist eine verhältnismäßig sichere Vorstufe zum Felsklettern und hat in den letzten Jahren einen gewaltigen Boom erlebt. Folglich sind viele Menschen am Drahtseil unterwegs, die wenig Vorkenntnisse mitbringen. Oftmals überschätzen sich die Neueinsteiger, kommen nicht mehr weiter und verursachen auf diese Weise Unfälle. Nicht auf schweren und ausgesetzten Klettersteigen, sondern vorwiegend eben auf Klettersteigen für Anfänger treten die meisten Klettersteignotfälle durch Blockieren auf, meist im Rahmen von Erschöpfung durch Überschätzung der eigenen Fähigkeiten.
Genau hier setzt das ÖKAS an: Durch Prävention- und Kommunikationsarbeit müssen wir die Menschen ansprechen und ihnen klarmachen, dass man die Dinge in den Bergen immer langsam und entsprechend der eigenen Fähigkeiten anzugehen hat. Wichtig ist, dass man in der Gruppe nur so schnell wie der Langsamste und so stark wie der Schwächste ist. Bei der Unfallanalyse beobachten wir häufig genau das Gegenteil.
Wenn man nun einen Blick auf das Unfallregister der Alpinpolizei wirft, dann ergibt sich folgendes Bild: Im Jahr 2005 verzeichnet die Statistik 416 Alpintote, im Vorjahr 2020 waren es 261. Innerhalb der letzten 15 Jahre hat sich die Zahl tödlicher Unfälle halbiert. Man könnte also sagen: das ÖKAS hat gute Arbeit geleistet.
2020 war sicherlich ein sehr spezielles Jahr, ab März wurde über ganz Österreich ein Lockdown verhängt und dieser hatte einen massiven Rückgang von Exkursionen im alpinen Raum zur Folge. Bis Ende Mai verlief deshalb die Saison in den Bergen relativ ruhig, aufgrund der Lockerungen im Sommer gingen die Zahlen dann wieder nach oben. Der Drang der Menschen nach draußen war enorm hoch war. Aber wie bereits gesagt: Das Hauptproblem bei der Beurteilung unserer Arbeit ist, dass wir zwar die Zahl der Verunfallten und Todesereignisse kennen, jedoch haben wir keine genauen Infos über die Gesamtpopulation, die im Gelände unterwegs ist. Es gibt abgesehen von Liftanlagen keine Zählstellen für Menschen, die in den Bergen unterwegs sind. Wir können deshalb nur indirekt über Verkaufszahlen von Sportausrüstung, Hotelbuchungen, Beobachtung und Insider-Gespräche annehmen, wie sich diese Gesamtzahl in den letzten Jahren entwickelt hat.
Insofern liegt aber die Vermutung nahe, dass sich die besonderen Regelungen des vergangenen Winters auf die alpine Sicherheit ausgewirkt hat?
Wir wissen, dass im Winter 2021 deutlich weniger Skiunfälle passiert sind. Das ist aber wenig verwunderlich, weil ja auch die Skigebiete teilweise gar nicht geöffnet hatten. Nur 15-30 % der üblichen Besucher waren in Skigebieten unterwegs, daher konnte besonders in urban-fernen Skigebieten wie z.B. am Arlberg ein drastischer Unfallrückgang beobachtet werden. Österreichweit sank die Zahl der Verletzten zur Vorsaison um 80%. Die Zahl der Lawinenverunfallten war dieses Jahr höher als im langjährigen Schnitt, trotz viel weniger Aktiver. Wir vermuten deshalb, dass – wie bereits im Sommer 2020 – auch diesen Pandemie-Winter viele urbane, wenig alpinistisch versierte Menschen in den Bergen Österreichs unterwegs waren.
Der Trend zu Aktivitäten in der Natur boomt: Viele Sporthäuser waren letzten Sommer und bereits im Früwinter leergekauft, weil ein immenser Ansturm auf Skitouren- und Langlaufausrüstung geherrscht hat. Folglich waren in manchen Skigebieten viel mehr Menschen nach oben unterwegs, als Skifahrer im Skigebiet nach unten fuhren. Und dadurch, dass der Tourismus so massiv eingebrochen ist, sind auch die Unfallzahlen geringer: Weniger Gäste bedeutet auch auch weniger Unfälle. Im Umkehrschluss liegt die Vermutung nahe – das können wir aber nicht belegen –, dass die Gesamtzahl der Verletzungen darauf zurückzuführen ist, dass eben mehr Österreicher draußen unterwegs waren.
Trotz allem hat sich die allgemeine Befürchtung, dass 2021 mehr Unfälle im Zusammenhang mit Skitourengehern eintreten könnten, nicht bewahrheitet. Glück oder gute Präventionsarbeit?
Sehr viele Neueinsteiger im Skitourengehen sind auf Pisten hochgestiegen. Das Skipisten-Touring hatte ja schon vor Covid-19 stark geboomt. Abseits der Piste waren zwar auch mehr Menschen anzutreffen, aber lange nicht so viel, wie Skitourengeher auf der Piste. Und das ist gut so, weil Skigebiete ein gesicherter Raum sind. Die Schneedecke war diesen Winter phasenweise sehr schlecht, also Glück alleine war es sicherlich nicht. Ich denke, dass die Unfallprävention durch alle Partner und auch Medien wie Bergwelten sehr gut funktioniert hat. Der Effekt ist multikausal – zusammen bewegen wir das große Boot der alpinen Sicherheit in die richtige Richtung.
Abschließende Frage: Wie lässt sich deine Tätigkeit als Primararzt in Salzburg mit deiner Rolle als Präsident des ÖKAS in Innsbruck vereinbaren?
Einfache Antwort: Ich pendle. Unter der Woche arbeite ich intensiv in Salzburg, am Wochenende bin ich bei meiner Familie in Innsbruck. Meine Arbeit als Präsident des ÖKAS basiert auf freiwilliger und ehrenamtlicher Basis. Man kann nicht alles selbst und am Besten machen. Ich habe das Glück von Menschen umgeben zu sein, die in ihren Bereichen richtig gut sind. Ich bin der Moderator des ÖKAS und in einem tollen Netzwerk von Profis verbessern wir die Sicherheit in Österreichs Bergen stetig weiter. Ich mache ja als Primar auch nicht jede Narkose selbst. Und ein schöner Nebeneffekt dieser Arbeitsaufteilung ist, dass ich besonders am Wochenende Zeit habe, um selbst unterwegs zu sein. Weil dieses draußen und oben sein, das ist mir schon sehr wichtig. Ich könnte mir aber auch gut vorstellen am Meer zu wohnen. Schließlich ermöglicht der Ozean einem eine ähnliche Wahrnehmung der Natur: Man fühlt sich bescheiden und erkennt, wie klein man eigentlich ist. Die Berge und das Meer kalibrieren einen schon sehr gut.
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