Über das Vermessen und Vermissen
Von wegen „ewiges Eis“: Die Gletscher der Alpen schmelzen in rasantem Tempo – das sieht jeder mit bloßem Auge. Die wissenschaftlichen Daten dazu liefern die ehrenamtlichen Gletschermesser des Alpenvereins. Wie kommen sie zu ihren Zahlen? Auf Exkursion an der Pasterze, Österreichs größtem Gletscher.
Wie vermisst man einen Gletscher? Diese Frage ist doppeldeutig. Denn man kann die lebenden Eismassen einerseits wissenschaftlich vermessen, man kann sie aber auch emotional vermissen. Wir sind an diesem verregneten Septembertag oberhalb Österreichs ikonischstem Gletscher unterwegs – der Pasterze am Großglockner – und machen gewissermaßen beides.
Vermessen, weil wir mit den Leitern des Gletschermessdienst des Österreichischen Alpenvereins – Prof. Gerhard Lieb und Dr. Andreas Kellerer-Pirklbauer – unterwegs sind und mehr über ihre ehrenamtliche Arbeit erfahren wollen.
Vermissen, weil von der ehemals eindrucksvollen Gletscherzunge, über die man noch vor ein paar Jahrzehnten bequem Richtung Großglockner-Nordwand spazieren konnte, ist fast nur mehr ein See übrig. Eis ist nur Wasser in einem anderen Aggregatszustand, soviel weiß man noch aus der Schulzeit. Doch trotzdem schwingt auch Emotion mit, wenn man noch die alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen im Kopf hat, auf denen eine mächtige Gletscherzunge zu sehen war. Und nun hier auf der Franz-Josefs-Höhe steht und nur einen großen See sieht, in dem ein paar Eisschollen verloren herumtümpeln.
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Über das Vermessen
Diese Veränderung mit wissenschaftlich fundierten Daten zu dokumentieren, das ist die Aufgabe von Gerhard Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer samt ihren sechs bis acht Helfern im Gebiet. Sie leiten den Gletschermessdienst des Alpenvereins, der jährlich im April den vielbeachteten Gletscherbericht herausgibt und auf eine der weltweit längsten Messreihen zurückblicken kann. Ursprünglich gegründet – soviel zur Ironie der Geschichte – um etwaige Gletschervorstöße zu erkennen, die in der damaligen Zeit durchaus die Lebensgrundlage der Agrarbevölkerung gefährden konnten.
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Letztes Jahr stand darin, dass der Längenverlust der Pasterze 42,7 Meter betrug. Und heuer? „Heuer wird es mehr werden, da das Jahr mit wenig Schneefall und höheren Temperaturen gletscherungünstiger war“, kann Gerhard Lieb verraten. Wie viel genau, das wird erst die komplexe Auswertung der Daten in den kommenden Wochen zeigen.
Um zu diesen Daten zu kommen, ist mittlerweile auch modernste Technik im Einsatz. Da sich die Gletscherzunge der Pasterze mittlerweile zu einem See gewandelt hat, ist es durchaus nicht einfach zu sagen, wo genau der Gletscher aufhört. Deshalb hatten die Gletschermesser in den letzten Tagen auch Drohnen im Einsatz, um die unzugänglichen Gebiete abzufliegen.
Aber auch harte körperliche Arbeit ist vonnöten: Auf einem genau definierten Punkt auf der Franz-Josefs-Höhe steckt Andreas Kellerer-Pirklbauer einen übermannshohen Stab in den Boden – er nennt das teure Differential-GPS-Gerät liebevoll seinen Gandalf-Stab – und stellt die Verbindung zum Satelliten her. „Es braucht eben jedes Jahr den exakt gleichen Referenzpunkt, damit die Messungen genau werden“, klärt er auf. Einmal kalibriert, startet die stundenlange Wanderung hinunter zum Rande des Eises. Drei volle Tage, vom ersten Licht bis zur Dämmerung, brauchten die Gletschermesser dieses Jahr, bis sie alle Daten gesammelt haben. „Und dann noch bis nach Mitternacht Protokoll schreiben“, schildert Andreas Kellerer-Pirklbauer den Arbeitsalltag.
Warum tut man sich das an, noch dazu ohne Bezahlung? Rund 60 Gletschermesser vermessen jedes Jahr an die 100 Gletscher, um ein umfassendes Bild der heimischen Eisriesen zu kreieren. Erklärbar ist das am ehesten mit einer Kombination aus Leidenschaft und Traditionsbewusstsein. „Als Gletschermesser bist du die Verschmelzung von Bergsteiger und Wissenschaftler“, meint Gerhard Lieb.
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„Es ist einfach eine Faszination für den Gletscher, für die Farben des Eises, für den Rohstoff Wasser. Die Landschaft ändert sich hier so dynamisch wie sonst nirgends.“ Allein seit Gerhard Lieb 1981 zum ersten Mal im Gebiet um Österreichs höchsten Berg als Gletschermesser unterwegs war, hat die Pasterze über einen Kilometer an Länge und 100 Meter an Eismächtigkeit (Dicke) verloren. Soll man das nun „dynamisch“ oder „dramatisch“ nennen?
Über das Vermissen
„Gletscher sind deshalb so interessant, weil sie sich verändern“, sagt Gerhard Lieb, der Geograph. „Und das ist auch visuell erkennbar. Sie sind das sichtbarste Zeichen des Klimawandels.“ Die Pasterze, das kann man so sagen, ist der ikonischste Gletscher Österreichs und immer noch der zehntgrößte der Alpen. Sie ist auch, so formuliert es Prof. Lieb, „ein Herzstück österreichischer Identität, gewissermaßen ein Inbegriff von schöner Hochgebirgslandschaft.“ Aber dieses Bild, dieses Ideal, verändert sich gerade rasant. „Das, was wir hier vor unseren Augen sehen, ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass klimapolitisch global gesehen etwas nicht stimmt“, so Gerhard Lieb weiter. „Es braucht halt noch ein bisserl, dann können wir da Schwammerlsuchen gehen.“
Die Natur wird sich anpassen. Auf den Eisrückzug folgen erste Pionierpflanzen wie der Quellsteinbrech, der Pasterzensee wird in ein paar Jahrzehnten zusedimentieren. Irgendwann wird sich ein lichter Lärchenwald bilden, ein Bach durch ein schönes Hochtal mäandern. Neuer Lebensraum für Flora entsteht, für die Gesellschaft bringt das aber keinen ernstzunehmenden Vorteil.
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Gerhard Karl Lieb: „Die Gletscher sind mir egal – der Klimawandel nicht“
Auf die Frage, ob man gegen die Gletscherschmelze noch was unternehmen kann, ist die kurze, aber präzise Antwort: „Na.“ Gerhard Lieb kommentiert das mit der fachkundigen Ironie, die er sich nach 40 Jahren kleiner werdender Gletscher antrainiert hat: „Die Gletscher wechseln von der Geografie zur Geschichte. Auch wenn wir ab morgen als gesamte Menschheit kein CO2 mehr emittieren, werden die Gletscher noch jahrzehntelang weiterschmelzen, weil das gesamte System nur sehr träge und zeitverzögert reagiert. Einen großen Teil der Gletscher in den Ostalpen haben wir bereits verspielt. Es wäre aber trotzdem äußerst wünschenswert, dass wir alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um die Emissionen zu verringern – nicht, um die Gletscher zu retten, aber um die Welt zu retten.“