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Gerhard Karl Lieb: „Die Gletscher sind mir egal – der Klimawandel nicht“

Aktuelles

5 Min.

02.05.2019

Foto: Christina Schwann, ökoalpin

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von Christina Schwann

Am 12. April 2019 stellte der Österreichische Alpenverein wie jedes Jahr seinen Gletscherbericht vor. Seit exakt 128 Jahren dokumentieren Wissenschaftler und ihre Gehilfen auf ehrenamtlicher Basis die Längenentwicklung von derzeit 93 Gletschern in Österreich – eine ununterbrochene Datenreihe, die nicht nur von wissenschaftlicher, sondern auch von gesellschaftlicher Relevanz ist. Wir haben beim Leiter des Gletschermessdienstes, Prof. Gerhard Karl Lieb, im Detail nachgefragt.

Das Gletscherhaushaltsjahr 2017/18 war wieder durch starke Rückgänge der heimischen Gletscher gekennzeichnet. Von den 93 beobachteten Gletschern, zogen sich 89 zurück, vier blieben stationär. Der größte Rückgang mit 128 m wurde am Viltagenkees im Osttiroler Teil der Venedigergruppe festgestellt.

Um nun aber noch mehr Details zu den Gletschern und den Auswirkungen ihres Rückgangs zu erfahren, haben wir bei Prof. Gerhard Karl Lieb, Institut für Geographie und Raumforschung der Universität Graz, der gemeinsam mit Dr. Andreas Kellerer-Pirklbauer die Leitung des Gletschermessdienstes des Alpenvereins inne hat, nachgefragt. 

Bergwelten: Herr Lieb, wie bewerten sie das aktuelle Ergebnis?

Gerhard Karl Lieb: 2017/18 fügt sich unspektakulär in die Reihe des Abwärtstrends ein, den wir nach letzten Vorstößen um 1980 nun schon seit vielen Jahren beobachten. Die einzelnen Zahlen schwanken zwar von Jahr zu Jahr – so ist der mittlere Rückgang 2018 mit 17,2 m geringer als 2017 mit 25,5 m –, aber das ändert nichts am Trend.

Wodurch kommen diese Schwankungen zustande?

Das hängt vom Zeitpunkt und der Intensität der winterlichen Schneefälle und vor allem von den Temperaturen und den Schneefällen im Sommer ab. Eine lange Schneebedeckung im Frühling verhindert ein rasches Abschmelzen, weil der Schnee wie eine Decke wirkt, die das Sonnenlicht reflektiert. 2018 hat gezeigt, dass der Winter bezüglich der Temperatur unauffällig, jedoch sehr schneereich verlief, aber der April 2018 war schlagartig sehr warm, die vorhandene Schneedecke schmolz rasch ab, und der Sommer war mit + 1.84°C einer der wärmsten in der Messgeschichte.

Heuer hat es in vielen Regionen überdurchschnittlich viel geschneit. Müsste sich das nicht sehr positiv auf die Gletscher auswirken?

Nein, das wird am Trend nichts ändern. Der Schneefall ist zwar gut für die Gletscher, aber die Reserve reicht aufgrund der warmen Sommer nicht aus, um große Teile der Gletscher das ganze Jahr über zu bedecken. Um den Gletscher aufzubauen, um das ‚Nährgebiet’ zu stärken, müssten am Ende des Sommers etwa die oberen zwei Drittel des Gletschers noch mit Schnee aus dem letzten Winter bedeckt sein. Erst zwei bis drei Jahrzehnte mit verregneten, kühlen Sommern, in denen man – überspitzt formuliert – weder baden gehen, noch den Wein aus der Südsteiermark in gewohnter Qualität genießen kann, würden am aktuellen Trend etwas ändern.

Hat die Tatsache, dass wir uns aktuell in einer Warmzeit innerhalb eines Eiszeitalters befinden auch einen Einfluss auf den globalen Temperaturanstieg, oder wird alles vom menschengemachten CO2-Ausstoß überlagert?

Das Ganze ist ein komplexes System, in dem unzählige Faktoren berücksichtigt werden müssen – angefangen von den astronomischen Phänomenen wie etwa Sonnenflecken, der Achsenneigung des Planeten, bis hin zu Meeresströmungen. Die aktuelle Warmzeit, das Holozän – oder, wie dessen jüngerer Abschnitt auch genannt wird das, ,Anthropozän' – würde vermutlich auch ohne menschengemachten Klimawandel einen Temperaturanstieg von rund 1°C in den Alpen bewirken. Was wir aktuell aber beobachten, ist ein Temperaturanstieg um den doppelten Betrag, der vor allem sehr schnell vor sich geht.

Wie sieht die Zukunft der Alpen aus? Was bedeutet der Gletscherrückgang etwa für die Energiewirtschaft oder auch das Trinkwasser?

Speicherseen von Pumpspeicherkraftwerken sind so konzipiert, dass sie nicht auf das Gletscherwasser angewiesen sind. Die jährliche Niederschlagsmenge wird sich nicht ändern, die Verteilung über das Jahr vermutlich schon. Für die großen Speicherseen ist das aber wenig relevant, die Wasserbilanz über das Jahr muss stimmen. Für hochalpine Speicherkraftwerke sind gletscherungünstige Bedingungen günstig, weil sie vom Schmelzwasser („Gletscherspende“) profitieren. Wenn die Gletscher vollständig abgeschmolzen sind, fällt nur diese Gletscherspende weg.

Auch was das Trinkwasser betrifft, müssen wir uns in Österreich keine Sorgen machen. Die genutzten Quellen sind ebenfalls meist nicht vom Gletschereis abhängig, sondern es handelt sich um Karstquellen oder um Grundwasser aus Schotterkörpern.

Punktuell und temporär kann es aber durchaus zu Engpässen kommen – etwa in der Landwirtschaft. Auch einzelne Hütten im Hochgebirge, deren Wasserbedarf aktuell von schmelzendem Gletschereis gedeckt wird, werden andere Methoden entwickeln müssen.

Stichwort „Hütten“: Was bedeutet der Gletscherrückgang für uns Wanderer und Bergsteigerinnen?

Viele Übergänge werden eisfrei zu begehen sein. Das kann durchaus ein Vorteil sein, weil man keine Gletscherausrüstung mehr braucht. Vielfach wird aber viel Schutt freigelegt. Wo man früher mit Steigeisen am Eis problemlos vorwärts kam, muss man heute über unangenehme Felsplatten, die noch dazu mit Schutt bedeckt sind, klettern. Es hat also Vor- und Nachteile.

Und wie sieht es mit der Problematik „Permafrost“ aus? Wird man sich auf vermehrte Steinschlagereignisse einstellen müssen? Wird es gefährlicher am Berg?

Untersuchungen zum Permafrost können leider nicht auf eine so lange Datenreihe zurückgreifen, wie dies bei der Gletschermessung der Fall ist. In Österreich haben wir ein Projekt zur Dauerbeobachtung von „Permafrost“, das aber erst seit 10 Jahren läuft. Generell kann man aber sagen, dass sich auch hier etwas tut. Oberflächennah taut immer mehr Permafrost auf. Da dieser ganze Gipfel bisher wie Beton zusammengehalten hat, liegt es auf der Hand, dass mit mehr Steinschlag zu rechnen ist. Vor allem die Höhenstufe zwischen 2.500 und 3.000 m scheint besonders sensibel zu sein.

Gletscher gehören in Österreich zum Landschaftsbild der Alpen. Ist es nicht schade, wenn diese verschwinden?

Das ist reine Ansichtssache. Ich denke, wir müssen uns vom romantisch verklärten Alpenbild, das durch Maler und Dichter in – ohnehin überzeichneter Weise – entstanden ist, verabschieden. Durch den Rückzug der Gletscher entstehen neue Landschaften, mehr Seen zum Beispiel. Auch wird die Waldgrenze nach oben steigen, Pflanzen werden nach und nach die grauen Schuttflächen der Moränen besiedeln. Abgesehen davon – in der Steiermark haben wir praktisch keine Gletscher und die Berge sind trotzdem schön.

Aber finden Sie es nicht schade, dass sich das Landschaftsbild so massiv verändert? Oder können Sie als Wissenschaftler diese Emotionen ablegen?

Als ich 1978 mein Geographie-Studium begann, war dies für mich die perfekte Verbindung meiner Leidenschaft für das Bergsteigen, meiner Faszination für die Gletscher und die Natur. Jeder Gletscherrückzug war für mich emotional – genau genommen war ich einer, der jedem Meter nachweinte. Heute ist es mir egal, ob die Gletscher zurückgehen oder vorstoßen – mir ist das Monitoring wichtig, ich möchte die lange Reihe der Messdaten weiterführen. Das ist der wissenschaftliche Auftrag und das wissenschaftliche Interesse. Sehr wohl allerdings in dem Bewusstsein, dass die Gletscher ein Warnsystem für uns darstellen. Der Rückgang ist ein Aufschrei, ein Alarmzeichen für die globale Problematik des Klimawandels.

Die Gletscher sind Ihnen also egal, der Klimawandel aber nicht? 

Richtig. Keinesfalls darf man den Klimawandel verharmlosen, das wäre der größte Fehler unserer Geschichte. 


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