Bouldern im Ötztal
Foto: Ray Demski
Das Ötztal war ungewöhnlich lange ein weißer Fleck auf den Boulder-Landkarten. In den letzten Jahren aber wurden hier ein paar der spannendsten Felsen Tirols herausgeputzt.
Flo Scheimpflug für das Bergweltenmagazin August/September 2018
„Das sieht aber gemütlich aus!", ruft eine ältere Dame, die zufällig vorbeispaziert und uns beim entspannten Sonnenbad auf den Bouldermatten betrachtet.
Doch ihr Eindruck trügt: Was wie Faulenzen aussieht, ist in Wahrheit fokussiertes Regenerieren nach einer höchst fingerfordernden Klettersession. Ein feiner Unterschied, der für Nichtboulderer kaum wahrnehmbar ist. Für die Züge am persönlichen Limit braucht man nämlich nicht nur Kraft, sondern auch Geduld. „Stark wird man erst in der Pause“, lasse ich mir von Stew Watson versichern.
Stew muss es wissen. Der aus Manchester stammende und mittlerweile im Tiroler Längenfeld lebende Physiotherapeut ist ein integraler Bestandteil der Ötztaler Boulderszene. Er ist hier die schwersten Boulder geklettert und zählt obendrein zu den eifrigsten Erschließern zwischen Sautens und Obergurgl. Mit ihm und den beiden Schwestern Sabine und Babsi Bacher sind wir losgezogen, die Boulder-Möglichkeiten im Ötztal auszuloten.
Biotop und weißer Fleck
Es gibt wenige Orte in Österreich, an denen das Biotop namens Klettern so lebendig blüht wie hier. Die Ötztaler Kletterszene ist vor allem eines: hochkarätig.
Etliche Locals wie die Bacher-Schwestern oder Lukas Ennemoser sind jahrelang im Boulder-Weltcup vorne mitgeklettert. Abseits des Scheinwerferlichts der Wettkampfbühne haben Lokalmatadore wie Markus Haid die Höchstschwierigkeiten im Ötztal bis in den 11. Grad gepusht. Last, but not least hat Hansjörg Auer, einer der stärksten Alpinisten der Gegenwart, hier seine kletterischen Wurzeln.
Angesichts des immensen Felspotenzials im Ötztal ist diese Leistungsdichte wenig verwunderlich. Egal wohin man schaut, fast überall streift der Blick ein Stück Fels. Was das Bouldern betrifft, nimmt das Tal allerdings eine Ausnahmestellung ein. Im Gegensatz zum kaum 90 Kilometer entfernten Zillertal, das in Österreich als Mekka der Blockjünger gilt und seit Jahren auch international zu den Brennpunkten zählt, war das Ötztal bis vor wenigen Saisonen ein weißer Fleck auf der Boulder-Landkarte.
Ein Umstand, den sich selbst die Locals nicht wirklich erklären können. „Im Ötztal gibt es so viele gute Kletterrouten, dass niemand auf die Idee kam, auch noch nach Boulderplätzen zu suchen“, versucht es Babsi Bacher. „Vielleicht sind wir Ötztaler Kletterer aber einfach nur ein bissl faul gewesen“, fügt sie mit schelmischem Lächeln und Schulterzucken hinzu.
Sherwood Forest made in Tirol
Wer den Anfang der Ötztaler Bouldergeschichte sucht, wird ihn an den gut sichtbaren Blöcken rund um Tumpen finden. 2005 entdeckte Stew Watson, dass Tumpen mehr zu bieten hatte, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Doch auch das 2008 erschienene Topo „Tumpen Bloc“, in dem er 250 Boulder, viele davon Erstbegehungen aus eigener Hand, notierte, reichte nicht aus, um Kletterer anzulocken.
Während man in den namhaften Gebieten wie dem Zillertal die Felsblöcke vor lauter Crashpads schon längst kaum noch ausmachen konnte, verlief die Entwicklung des Ötztaler Boulderns wie gesagt erstaunlich schleppend – bis zum Jahr 2012, als Manu Schopf und Berni Ruech beschlossen, ein Waldstück nahe des Ortes Habichen zu inspizieren.
Es dauerte nicht lange, bis die beiden fündig wurden und unter Moos und Farnen etliche Blöcke aus bestem Granit entdeckten. So etwas spricht sich herum. Und so wurden Berni und Manu sowie der dazugekommene Stew Watson von einem weiteren Briten, dem aus Nottingham stammenden und nun in Flirsch lebenden Toby Saxton, bei der Erschließung des Gebiets Sherwood Forest unterstützt.
Neben rund 100 Bouldern verfügt die Tiroler Version von Robin Hoods berühmtem Wald sogar über eine eigene Klimaanlage. Dank der unweit vorbeidonnernden Ötztaler Ache ist es hier auch im Sommer angenehm kühl.
Mittlerweile ist es Nachmittag, und unsere Boulderkarawane ist um ebenjenen Toby Saxton sowie seinen Boulderpartner Manu Ladner angewachsen. Ein durchaus glücklicher Zufall, denn die beiden haben 2013 oberhalb von Winklen das bislang größte Bouldergebiet im Ötztal entdeckt: das Land of Giants, unser Ziel.
Der Hauptsektor, in dem wir unsere Crashpads als Erstes ausbreiten, ist zwar nur ein paar hundert Meter Luftlinie von der Talsohle entfernt, trotzdem fühlt es sich an, als wäre der Trubel des Ötztals einen Tagesmarsch weit weg. Das hintergründige Rumoren der vom Schmelzwasser reißenden Ötztaler Ache dringt genauso wenig hier herauf wie das hochtourige Aufheulen von Hobbybikern, die auf der Bundesstraße Valentino Rossi mimen.
Still ist es hier heroben. So still, dass man meinen möchte, die Felsblöcke seien nicht aus massivem Granit, sondern aus Schaumgummi und in der Lage, jeden Anflug von Lärm zu absorbieren. Auch der Name, den die beiden für dieses Gebiet gewählt haben – „Land of Giants“ –, könnte treffender nicht sein.
Wenn man inmitten dieser Granitblöcke steht, kann man sich als Boulderer schon richtig klein vorkommen. Und einige der Felsbrocken haben auch tatsächlich gigantische Ausmaße, ein durchschnittliches Einfamilienhaus wäre da nicht viel größer. „Highballs“ nennt man solche Riesenfindlinge im Kletterjargon.
Die amerikanische Kletterlegende John Sherman hat diesen Terminus, der eigentlich eine Cocktailart bezeichnet, irgendwann in den 1980ern für das Klettern adaptiert, als er die haushohen Granitblöcke im kalifornischen Joshua Tree beschrieb. Zu sehr sollte man sich davon aber nicht beeindrucken lassen.
Nicht alle Blöcke sind so hoch. Die meisten Boulder hier weisen moderate Ausstiegshöhen auf und lassen das „Land der Giganten“ als eines der sanften Riesen erscheinen, in dem auch Kinder auf ihre Kosten kommen.
Mythos Intuition
Bereits in den 1980ern hatte das moderne Sportklettern im Ötztal Fuß zu fassen begonnen. Die Entwicklung des Boulderns hingegen hat auffällig lange auf sich warten lassen. Wie findet man eigentlich ein Bouldergebiet? Wo beginnt man zu suchen? Toby Saxtons Antwort auf diese Fragen umfasst nicht mehr als zwei Worte: „Google Earth.“
Zugegeben, der Mythos Intuition hat darunter ein wenig zu leiden, doch um Blockfelder aufzuspüren, die sich irgendwo in den Weiten der Alpen verstecken, gibt es nichts Besseres als den virtuellen Globus samt Zoom-Funktion. Hochaufgelöste Satellitenbilder sind für den modernen Boulderer mittlerweile so unentbehrlich geworden wie die Bürste zum Griffeputzen.
Doch nicht alles, was am Laptop vielversprechend aus dem dichten Grün der Wälder hervorleuchtet, ist zum Klettern geeigneter Fels. Streifzüge durchs Unterholz erspart man sich auch heutzutage nicht, und das ist gut so. Denn das „Exploren“, also das Suchen nach unbekannten Blöcken, ist seit jeher Teil der Boulderer-DNA. Würde nicht in jedem Boulderer auch ein neugieriger Wanderer stecken, wäre die Welt mit Sicherheit um viele großartige Gebiete ärmer.
„Als wir anno 2012 zum ersten Mal hier durch den Wald spazierten, haben wir nicht eine Sekunde damit gerechnet, auch nur einen Kieselstein zu finden“, erinnert sich Manu. „Plötzlich waren wir umringt von Blöcken.“
Linien suchen, Blöcke putzen
Es gibt wohl nichts, was das Bouldererherz höher schlagen lässt, als die Entdeckung von jungfräulichem Fels. Jeder erfolgreiche Explorer weiß, dass das auch der Auftakt für eine Menge Arbeit ist: Linien suchen, Blöcke putzen, das Absprunggelände gewissenhaft präparieren, Wege anlegen. Erst wenn das alles erledigt ist, kann man sich dem Eigentlichen widmen, dem Klettern.
„Für diesen Block habe ich eineinhalb Tage gebraucht“, erinnert sich Toby. Und damit meint er nicht die Zeit, die notwendig war, um die Züge dieses Boulderproblems bei einem Durchstiegsversuch aneinanderzureihen – das geht sich locker innerhalb einer Minute aus –, sondern der Aufwand, der notwendig ist, um ein Stück Fels, das hunderte Jahre im Unterholz lag, in einen kletterbaren Boulder zu transformieren.
Wie mit Skalpell und Nagelschere
Der Block, auf den er zeigt, sticht nicht bloß wegen der weißen Chalkspuren an seiner stark überhängenden Front hervor. Viel auffälliger ist, wie gepflegt, wie sauber dieses Stück Fels ist. Als wäre es eben aus der Verpackung genommen worden.
Nicht ein Halm wächst aus seinen Ritzen, keine Tannennadel, kein Erdkrümel trübt den makellosen Granit. Die dicke Moosschicht, die die Linie des Boulders seitlich begrenzt, ist so schnurgerade geschnitten, als wäre jemand den Blättern und Ästchen mit Skalpell, Nagelschere und Wasserwaage zu Leibe gerückt. Woanders bekommt man für eine derart gewissenhafte Arbeit ein Diplom in Landschaftsgestaltung überreicht.
„Eine solche Arbeit tut sich nicht jeder an“, meint Toby, „die meisten gehen lieber klettern.“ Ihn fasziniert der Prozess, der dem Klettern vorangeht und der es erst möglich macht, ebenso. Schlafende Riesen soll man nicht wecken, heißt es. Im Ötztal haben sich die Kletterer entschieden, sie sanft und freundlich wach werden zu lassen. So ist das Ötztal zu einer der besten Boulder-Destinationen des Landes geworden.
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