Hochobir – der Berg der Blumen
Wo sich Alpenluft und Mittelmeerklima treffen: eine Erkundung von Kärntens Naturparadies in den Karawanken. Hier ist jede Pflanze ein kleines Wunder – und der Enzian sogar bissig.
Alexander Lisetz für das Bergweltenmagazin Februar 2017
Wenn du mit Paula Micheuz auf den Hochobir steigst und eine Pause machen willst, musst du dir keine Blöße geben und deine mangelnde Kondition outen. Du kannst immer den gleichen Satz sagen: „Du, Paula, was ist das für eine Blume?“
Und schon ist Paula Micheuz, die Wanderführerin und passionierte Kräuterpädagogin, in ihrem Element. „Ma, dos miaßts eich olle onschaun“, ruft sie dann und stoppt die ganze Gruppe vor einem winzigen Pflänzchen mit zartrosa Blütenstock: „A Steiner-Alpen-Kohlröserl!“
Du kannst diesen Vorgang beliebig oft wiederholen.
Der Hochobir, ein 2.139 Meter hoher Aussichtsberg im südlichsten Eck Österreichs, ist nämlich so etwas wie Kärntens größter Alpengarten. Auf seinen sonnigen Hängen wachsen Schneerosen und Enzian, Alpenröschen und Kleinste Soldanelle. Seine Hauptattraktion sind aber jene Alpenblumenarten, die nur hier in den südöstlichen Kalkalpen vorkommen und nirgends sonst. Sogenannte Endemiten.
Paula Micheuz kann ihre Namen im Schlaf herunterrattern: Obir-Steinkraut, Obir-Kriech-Schaumkresse, Obir-Greiskraut, Zois-Glockenblume, Wulfen-Primel – sie könnte endlos so weitertun.
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„Der Hochobir“, sagt sie stattdessen, jetzt ganz im Vortragsmodus, „war in der letzten Eiszeit eine eisfreie Insel. Darum haben sich all diese Pflanzen hier ungestört entwickeln können.“ Aber noch etwas ist besonders: Der Obir hat sich genau im Einzugsbereich der warmen Adrialuft postiert, freistehend und südlicher gelegen als Bozen. Darum bläst hier der Föhn immer schon ein, zwei Tage früher als im Rest von Kärnten, und darum wächst auf den Almen die alpine Vegetation Seite an Seite mit der mediterranen.
Sobald die Julisonne den Morgentau verdampft, duftet jeder Meter am Obir nach mediterranem Gewürzregal. Hier eine Brise Salbei, da ein Hauch Thymian, dort ein Wölkchen Kümmel. Am liebsten würde man ständig stehen bleiben und einen tiefen Zug Kräuterluft inhalieren. Paula, was ist das für eine Blume?
Jede Wanderung auf den Hochobir ist ein Lehrgang im Genauer-Hinschauen. Denn die zarten Alpenblümchen unterm Setz-Kreuz, an der kalten Quelle oder neben dem Pruggersteig sind Schätze, die man erst auf den zweiten Blick als solche erkennt. Diesen zweiten Blick verdienen sie nicht nur wegen ihrer filigranen Schönheit.
„Jedes einzelne Pflänzchen am Obir ist zugleich ein kleines Naturwunder“, sagt Paula Micheuz, „weil jedes seine eigene, ganz spezielle Überlebensstrategie hat.“
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Die Blüte der Ragwurz zum Beispiel sieht aus wie eine Hummel und produziert einen Sexuallockstoff, der vorbeifliegende Hummeln auf, nun ja, blümerante Gedanken bringt. Etwas plumper geht der Clusius-Enzian vor. Er schließt seine dunkelblaue Blüte wie eine Mausefalle, sobald sich ein Insekt darin befindet – und lässt die Geisel erst frei, wenn die Bestäubung vollzogen ist.
Der Frauenmantel wiederum hat sich auf ein anderes Talent spezialisiert, mit dem wir Wanderer uns gut identifizieren können: Er beginnt zu schwitzen, sobald es warm wird.
Die schaurigste Obir-Bewohnerin löst hingegen eher Angstschweiß aus. Das Alpen-Fettkraut deckt seinen Nährstoffbedarf, indem es Wanderer verspeist. Entwarnung: Bergwelten-Leser sind auf der sicheren Seite, sofern ihre Körpergröße zwei bis drei Millimeter übersteigt. Vorbeispazierende Kleininsekten bleiben hingegen auf den gefräßigen Blättern kleben und werden an Ort und Stelle verdaut.
Berg ohne Dünkel
Eine ausgesprochen sympathische Seite des Hochobir ist seine typisch kärntnerische Leutseligkeit. Er lässt nicht nur erfahrene Alpinisten in seine Nähe, sondern bietet jedem seine Freundschaft an.
Neun Routen führen auf den Gipfel. „Und für die meisten“, sagt Bergführer und Bergretter Christian Koschlak, „brauchst du bei gutem Wetter keine besondere alpinistische Erfahrung.“ Das bisschen Anstrengung wird mit herrlichem Ausblick auf das Drautal und den Wörthersee belohnt. An klaren Tagen sieht man bis zum Großglockner und zum Triglav.
Darum treffen sich am Gipfel die unterschiedlichsten Naturliebhaber: der Bergläufer, der in zwei Stunden, zehn Minuten von Bad Eisenkappel auf den Gipfel hastet; die russische Touristin, die ihren ersten Berg bestiegen hat; und Georg Woschitz aus Hungerrain, der von seinem Esszimmerfenster unten im Jauntal jeden Tag hinauf auf den Hochobir schaut.
Mit seinen Berner Sennenhunden ist er regelmäßig hier heroben. Georg Woschitz züchtet die geländegängigen Kuschelbären seit zwanzig Jahren. Als Zuchtleiter kennt er jeden ihrer Charakterzüge. „Die gutmütigsten Familienhunde überhaupt“ seien sie, sagt er, „ausdauernd und ruhig, perfekte Lawinensuch- und Bergrettungshunde.“
Beim Aufstieg sehen wir, was er meint: Fiby, seine 22 Monate alte Sennenhündin, läuft ständig vor und zurück, um die kleine Menschenherde zusammenzuhalten. Wenn sie am schmalen Pfad einen unabsichtlichen Bergschuhkick abbekommt, macht sie nicht einmal einen Mucks. Und am Ziel ist sie die munterste, obwohl sie dreimal so viele Höhenmeter zurückgelegt hat wie wir anderen.
Hans Smolig, der Senner vom Meierhof direkt an der Hochobir-Mautstraße, hat Hunde nicht so gerne wie Georg Woschitz. „Schreibts, doss jeder a Depp ist, der sein’ Hund ohne Leine umadumrenna losst“, trägt er uns auf. Freilaufende Hunde machen nämlich nicht nur die scheuen Birk- und Schneehühner am Berg nervös, sondern auch seine 120 Kühe.
Almluft statt Asthmaspray
Hans Smolig lebt jeden Sommer drei Monate lang oben am Hochobir, in einer selbst gebauten Hütte im Wald, deren Errichtung nicht hundertprozentig legal war. Zehn Kilometer macht er jeden Tag, bergauf und bergab, um seine Schützlinge zu betreuen. Die Arbeit und die Einsamkeit oben auf der Alm sind für den 71-Jährigen mit dem faltigen Lausbubengesicht ein Lebenselixier: „Vor zehn Jahren war ich schwer lungenkrank. Seit ich auf der Alm bin, brauch ich keinen Arzt mehr.“
Unterwegs zum Hochobir-Gipfel trifft man viele Senioren wie ihn, drahtig, sonnengebräunt und fitter als so mancher Dreißigjähriger aus der Großstadt. Viele der Älteren erinnern sich an jene Zeit, in der die Konflikte zwischen deutschsprachigen und den slowenischsprachigen Kärntnern eskalierten.
Noch heute findet man am ganzen Berg Spuren dieser hitzköpfigen Vergangenheit. Die Ruinen des Rainer-Schutzhauses, die Reste der Hann-Wetterwarte, die Lichtung, an der in den letzten Kriegstagen ein Hof abgebrannt ist: Sie alle sind Mahnmale, und bis heute streiten beide Parteien darüber, was von Kärntner Abwehrkämpfern und was von slowenischen Partisanen zerstört wurde.
In Hermine und Anton Jernejs Eisenkappler Hütte, dem klassischen Start- und Endpunkt jeder Obir-Besteigung, sitzen dann aber wieder alle am selben Tisch. Die Städter und die Einheimischen. Der Senner und die Hundewanderer. Zwei Klagenfurter Elektrotechniker, die sich nach einer Klettertour im Supermarkt Zahnbürsten gekauft haben, weil sie spontan noch eine Nacht drangehängt haben. Zwei top sportliche Studentinnen, die, ohne mit der Wimper zu zucken, Hermine Jernejs Riesenschweinsbratenportionen verputzen.
Und Paula Micheuz, die mit einer Touristin aus Wels über Alpenblumen diskutiert. „Wir können viel von den Alpenblumen lernen“, sagt sie gerade. „Jede ist auf ihre Weise besonders, jede ist nützlich, und für alle ist Platz genug da.“
Von vis-à-vis glühen jetzt die Steiner Alpen rosarot in der Abendsonne herüber, und in der Stube prosten sich Bergkameraden zu, die sich vor zwei Stunden noch gar nicht gekannt haben. Wer sagt denn, dass wir nicht genauso gescheit sein können wie die Alpenblumen?