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Foto: Herbert Zimmermann
Bergportrait

Der Eiger: Mehr als nur ein Berg

• 29. Oktober 2021
5 Min. Lesezeit

Für Grindelwald ist der Eiger mehr als nur ein Berg. Die mächtige Nordwand ist Teil der Identität des Dorfes – und für Alpinisten eine Herausforderung, die weltweit ihresgleichen sucht.

Gabi Schwegler für das Bergweltenmagazin Oktober/November 2018 aus der Schweiz

„Es ist kalt. Es ist windig. Es tropft vom Fels. Neben mir geht es steil runter. Augenblicklich ist diese Ernsthaftigkeit da. Die Art des Eigers ist unfreundlich. Trotzdem fühle ich mich wohl und daheim." So beschreibt Roger Schäli, einer der besten Felskletterer der Welt, die Gefühle, die ihn jedes Mal unweigerlich überkommen, wenn er in die unwirtliche Nordwand des Eigers einsteigt. Schäli hat schon mehrere hundert Tage in der Wand verbracht, sie in 15 verschiedenen Routen durchstiegen.

Bergsteiger vor einem Wasserfall.
Foto: Herbert Zimmermann
Der Eiger Trail führt am Fusse der weltberühmten Nordwand hinab nach Alpiglen. Links: Postkartenidylle mit dem imposanten Eiger im Hintergrund.
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Über vierzig Mal stand er auf dem Gipfel, mit 19 Jahren zum ersten Mal. „Mit dem Berg verbindet mich eine große Lebens- und Liebesgeschichte", sagt er, der nun seit zwanzig Jahren am Eiger klettert, „aber in dieser Liebe kann man sich nie ausruhen. Der Eiger fordert einem immer alles ab." Kaum jemand war so oft in der Wand wie Roger Schäli.

Gerade arbeitet er, der seit 2011 zusammen mit dem Südtiroler Simon Gietl den Seilschaftsrekord in der Nordwand hält, an einer neuen Route. Und auch dann soll noch lange nicht Schluss sein: „Ich hoffe, dass ich noch mein Leben lang am Eiger klettern kann", sagt Schäli.

Der Käse vom Eiger.
Foto: Herbert Zimmermann
Johann Wittwer mit seinem Kassenschlager, dem „Bergführer"-Käse.

Ob Profi-Alpinist oder Tourist – der Berg ob Grindelwald im Berner Oberland lässt niemanden kalt. Der 3.970 Meter hohe Fels bewegt die Menschheit seit Jahrzehnten weit über die Schweizer Grenzen hinaus mit seinen Dramen und Erfolgsgeschichten – und das, obwohl er der Kleinste des weltbekannten Dreigestirns Eiger, Mönch und Jungfrau ist.

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Wir nähern uns der berühmten Wand von einer ungewohnten Seite: Ausgangspunkt ist die kühle Gletscherschlucht des Unteren Grindelwaldgletschers, von wo sich der Weg durch moosige Wälder in Richtung der Eiger-Hörnli – oder Hireleni – hinaufschlängelt. Immer mächtiger zieht das Eigermassiv linker Hand in die Höhe, während wir in leichtem Auf und Ab auf einsamen Pfaden nach Alpiglen wandern.

Wie eigensinnig der Eiger wettermäßig sein kann, zeigt sich an diesem warmen Tag eindrücklich: Während es im Talboden und unter den Hörnli noch sonnig war, hüllen immer dichter werdende Wolken den Gipfel ein. Nur zwischendurch gibt ein Wolkenloch den Blick auf das Schneefeld in der Westflanke frei. „Wettermäßig ist der Eiger eine absolute Diva", hatte uns Roger Schäli noch gewarnt. „Man muss im richtigen Moment zuschlagen, um erfolgreich zu sein an diesem Berg." Die Erklärung für diese Kapriolen liegt in der Topografie des Eigers: Die nach innen gewölbte Form der Wand sorgt für ein Mikroklima.  

Eine Schlucht durch die ein Fluss führt.
Foto: Herbert Zimmermann
In der Schlucht des Unteren Grindelwaldgletschers ist es selbst an heissen Tagen angemehm kühl.

Der Eiger ist überall

Erstmals bezwungen wurde der Eiger im Jahr 1858 über die Westflanke: Der irische Gelegenheitsbergsteiger und Pferdenarr Charles Barrington erreichte in Begleitung der Grindelwalder Bergführer Christian Almer und Peter Bohren erstmals den Gipfel. Oben angekommen, steckte er zum Beweis eine Flagge ein, die vom Dorf aus mit dem Fernglas zu sehen war.

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Das Konterfei der beiden Lokalhelden ziert heute den „Bergführer"-Käse von Eigermilch Grindelwald, einem Zusammenschluss von 68 Bergbauern. Verkäst wird dafür sogar die Milch der Kühe eines Nachkommens von Christian Almer. „Wir möchten mit dem Käse die Geschichte dieser zwei mutigen Männer weitertragen", sagt Käsermeister Johann Wittwer hinter der Theke im neuen Einkaufszentrum von Grindelwald. „Der mythische Eiger steht für uns hier in Grindelwald für unsere Identität."

So liegt in der Auslage auch der Weichkäse „Weiße Spinne", benannt nach einer Schlüsselstelle in der Nordwand. „Die Nähe zum Berg, unter dem unsere Kühe grasen, soll spürbar sein bei allem, was wir machen", sagt Wittwer. 

Wanderer beim überqueren eines Flusses.
Foto: Herbert Zimmermann
Auf einer Art Spinnennetz wagen sich Mutige über die tosende Lütschine.

Nach der Erstbesteigung dauerte es weitere achtzig Jahre, bis es den beiden Deutschen Anderl Heckmair und Ludwig Vörg mit den zwei Österreichern Fritz Kasparek und Heinrich Harrer 1938 gelang, die Nordwand in drei Tagen zu durchsteigen. Die vier Kilometer lange Heckmair-Routeist heute noch sehr beliebt.

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Der 2017 verunglückte Alpinist Ueli Steck durchkletterte sie 2008 in unglaublichen 2 Stunden und 27 Minuten komplett seilfrei. „Sie bietet viele aus unterschiedlichen Gründen anspruchsvolle Stellen, sowohl im Fels als auch in den Eisfeldern", sagt Bergführer Marco Bomio, der das kleine Dorfmuseum in Grindelwald leitet. Zum 60. Geburtstag schenkte er sich die Durchsteigung der Nordwand. „Diese Tour zu klettern ist gewaltig. Hierzulande gibt es nichts Vergleichbares."

1979 stand er erstmals auf dem Gipfel, vierzig weitere Begehungen mit Gästen kamen hinzu – meistens über den Mittellegigrat, der an der schmalsten Stelle gerade einmal zwanzig Zentimeter breit ist.

Frühstück serviert auf einem Brett.
Foto: Herbert Zimmermann
Das köstliche Frühstück im Café 3692 ist ein Geheimtipp.

Ganz ohne Gefahr kommt man als Wanderer der Wand auf dem Eiger Trail am nächsten – einem gemütlichen Höhenweg, der bei der Station Eigergletscherdirekt am Wandfuß startet. Der Blick hinauf an die 1.800 Meter hohe, berüchtigte Kletterwand lässt die Leistungen der Alpinisten nochmals in einem neuen Licht erscheinen. Erst durch Geröllfelder, dann durch grüne Weiden laufen wir talwärts und staunen immer wieder. Genau diese Nähe zur Wand, diese ungewöhnliche Zugänglichkeit ist für viele Touristen so faszinierend.

Scharenweise steigen sie auf der Kleinen Scheidegg aus der Zahnradbahn. Kurz wähnt man sich an der Zürcher Bahnhofstrasse während der Rushhour.130 Jahre geht die Geschichte der Jungfraubahn zurück. Schon 1898 wurde die Station Eigergletscher eröffnet. In den folgenden Jahren bohrten sich die meist italienischen Arbeiter durch den Eiger und erschlossen die Stationen Eigerwand (2.865 m) und Eismeer (3.159 m). Im Jahr 1912 schließlich wurde das Jahrhundertbauwerk mit der Endstation auf dem Jungfraujoch (3.454 m) – dem höchstgelegenen Bahnhof Europas – beendet. 

Die Berglandschaft des Eiger.
Foto: Herbert Zimmermann
Auf dem Männlichen hat man das Dreigestirn aus Eiger, Mönch und Jungfrau (von links) stets im Blick.

Immer neue Wagnisse

Ein besonderes Zeugnis aus jener Bauzeit sehen wir, als wir weit abseits der Touristenmassen am Hang ob Grindelwald im Café 3692 einkehren. Ins Lokal führen Schienen, auf denen ein nachgebauter Stollenwagen mit Originalrädern von damals steht. Im Winter dient er als Cheminée, im Sommer wird er zum Grillplausch auf die Terrasse gefahren.

 

Der Alpinist posiert für das Foto.
Foto: Herbert Zimmermann
Alpinist Roger Schäli stand schon über 40-mal auf dem Gipfel des Eigers.

„Wir wollen so einen Teil der Eiger-Geschichte sichtbar machen", sagt Myriam Kaufmann, die das Café 2013 zusammen mit ihrem Mann Bruno eröffnete und sich auch nach fünf Jahren noch jeden Tag aufs Neue für den dunklen Riesen vor ihrer Haustür begeistern kann. „Wir leben so nahe an der Wand, sehen mit dem Fernglas sogar die Bergsteiger. Viele von uns sind von den unglaublichen Dramen und Leistungen angezogen, welche in die Geschichte des Eigers eingegangen sind."

Ein Restaurant auf dem Berg.
Foto: Herbert Zimmermann
Das Restaurant Grindelwaldblick ist ein beliebtes Ziel für Tagestouristen

Verrückt am Berg

Und so steht der Berg vor allem für den Wandel im Alpinismus und ist Spielfeld für immer neue Wagnisse. Seit gut einem Jahrzehnt gibt es immer mehr Tourenskifahrer, die von der Station Eigergletscher aus bis 70 Meter unter den Gletscher mit den Skiern hochlaufen. Und über den Köpfen der Wanderer auf dem Eiger Trail fliegen immer öfter gar wagemutige BASE-Jumper und Verrückte mit Wingsuits in die Tiefe. Marco Bomio nimmt’s gelassen. 

Ein Sportler mit einem Paragleiter in der Luft.
Foto: Herbert Zimmermann
Auf dem ersten Kilometer des Eiger Trails kommt man dem berühmten Berg ganz nah: Rechts ragt die Nordwand eindrücklich empor.

„Die nachkommenden Generationen haben das Recht, Neues am Berg auszuprobieren. Meine Generation tat ebenfalls Dinge, welche die Älteren für völlig verrückt hielten", so sein altersweises Urteil. Die legendäre Diva selbst reagiert auf all dieses wilde Treiben genau so, wie es schon an der Station Eigergletscher in den Fels gehauen steht: „Den Eiger kümmert’s nicht."

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