Wandern auf Teneriffa: Der schlafende Vulkan
Foto: Philipp Horak
Wandern auf den Kanarischen Inseln: Teneriffa. Angenehmes Klima, abwechslungsreiche Landschaft und ein Klassiker fürs Gipfelbuch: Mit 3.718 Metern ist der Teide Spaniens höchster Berg und Europas höchster Vulkan.
Verena Randolf für das Bergwelten Magazin Dezember/Jänner 2018/19
Andrés Rios Luci trommelt ungeduldig gegen das Lenkrad seines Vans. Es geht ihm eindeutig zu langsam hier. „Dominguero!“ – „Sonntagsfahrer!“ –, ruft er ärgerlich, wenn einer der zahlreichen Urlauber im Mietauto mit Schrittgeschwindigkeit ihm die Straße blockiert. Der Wanderführer lenkt den Wagen durch das dichte Nebelmeer auf der „Seite der Insel“, wie er den Norden Teneriffas nennt, und nimmt auch in engen Kurven bei schlechter Sicht die Sonnenbrille nicht ab.
Andrés, den alle hier duzen, ist auf dem Weg zum Gipfel des höchsten Berges von Spanien: Als schlafender Vulkan liegt der Teide im Zentrum Teneriffas. Ein einsam in den Himmel ragender Gipfel, an dessen Fuß Regenwald wächst, der mit zunehmenden Höhenmetern aber immer lichter wird, bis die Natur nahe der Seilbahnstation, die eine beliebte Ausgangsposition für Gipfelbesteigungen ist, nur noch nach Mondlandschaft aussieht.
Er ist der höchste Vulkan Europas und der dritthöchste Inselvulkan der Welt – im Frühling ein Paradies für Wanderer mit einem Dutzend Routen in verschiedenen Schwierigkeitsstufen. Entlang der schmalen Asphaltstraße, die durch den Nationalpark in Richtung Seilbahn führt, entzieht der Nebel dem tiefgrünen Urwald die Farbe. Kiefern säumen den Weg, die bis zu 25 Meter in die Höhe ragen, mit ihren Nadeln die Feuchtigkeit aus der Luft kämmen und damit für noch mehr Niederschlag sorgen.
An ihren knorrigen Ästen wehen mintgrüne Flechten; das Licht zwischen den Bäumen erinnert schon vormittags an den Abend. In Andrés’ Autoradio läuft „Riders on the Storm“. Jeden Tag dieselbe Playlist. Wenn der gebürtige Südamerikaner hier entlangfährt, heult sein Motor bei Überholmanövern zu The Doors, die im Idealfall nur unterbrochen werden, weil seine „Chefin“, wie Andrés sie nennt, anruft:
Statt des Songtitels steht dann „Love of My Life“ am Display, und Andrés’ Stimme klingt einige Nuancen zärtlicher als sonst, wenn er über die Freisprecheinrichtung seine neue Freundin Susana mit „Hola, amor“ begrüßt.
Die Kanareninsel Teneriffa, rund drei Flugstunden von Madrid entfernt und geografisch viel näher an Afrika als an Europa gelegen, ist in vielerlei Hinsicht einzigartig: Das angenehme Klima und die mannigfaltige Landschaft zwischen den Küstenlinien, dem Anaga- und dem Teno-Gebirge sowie den schwarzen Lavafeldern im machen Teneriffa zum gern gebuchten Reiseziel bei Wanderern.
Insel der Mirkoklimata
Die beliebtesten Inseltouren führen durch beeindruckende Schluchten wie die Masca-Schlucht, vorbei an urigen Bergdörfern, an die wilde Atlantikküste oder auf zerklüftete Berggipfel. Über 40 Mikroklimata prägen hier das Wetter. Im Süden der rund 2.000 Quadratkilometer großen Insel, wo Hotelanlagen und Bettenburgen stehen und wo Briten, Niederländern und Deutschen Sangria in Kübeln serviert wird, ist es das ganze Jahr über beständig sonnig und warm.
Im Norden des Eilands sorgt Passatwind, der zuverlässig Wolken gegen die Berggipfel schiebt, für Regen aus der Horizontale, für Nebel und Luft, die so feucht ist, dass sich die Frisuren der Touristen kräuseln, die in Bussen aus dem Süden in Richtung des Nationalparks gebracht werden.
Würden die Urlauber weiter Richtung Nordosten fahren, um im Anaga-Gebirge auf rund tausend Höhenmetern zu wandern, stünden sie an der Küste der Insel inmitten von Wildkräutern, üppigen Blüten und schwarzer Erde – in einer touristisch wenig erschlossenen Region mit tiefen Schluchten, spitzen Felsen und Wanderwegen hoch über dem Atlantik. Wer von hier oben den Surfern zusieht, die gegen Schaumkronen und mannshohe Wellen ins Meer hinauspaddeln, tut dies zumeist ungestört.
„Wenn du da lange genug sitzt und Richtung Horizont schaust, dann fragst du dich irgendwann nur noch eines: ‚Wo fängt das Meer an und wo der Himmel?‘ – Sorgen weg.“ Andrés lacht. Vor 20 Jahren packte der gebürtige Peruaner alles, was er besaß, in einen kleinen Fiat und fuhr, schwer beladen, von der Toskana aus los. Vier Tage und 3.500 Kilometer später erreichte er Teneriffa.
Sich nach einem Urlaub auf der Kanareninsel – wo er sich in die wilde Landschaft und in das grünste Grün verliebte, das er jemals gesehen hatte – wieder in einen der Hörsäle in Pisa zu setzen, um Bilanzen und Kostenrechnungen zu erstellen, kam ihm absurd vor. So brach er das Studium ab, verließ Italien und wurde auf der Insel Wanderführer. Und weil er den Weg von seiner Wohnung bis in den Nationalpark seit damals fast jeden Tag fährt, lenkt er sein Auto so sicher, als gleite es auf Schienen.
Weinreben auf Lavasand
Neben einer Regenjacke sowie Orangensaft im Tetra Pak samt Strohhalm, wie ihn Kinder gern trinken, braucht Andrés nicht viel, wenn er auf den Gipfel des Teide steigt. 3.718 Meter, die er durchschnittlich in vier Stunden erklimmt. „Die letzten drei Wochen“, rechnet er vor, „war ich nur an zwei Tagen nicht am Gipfel. Sonst immer.“
Er winkt, wenn Einheimische seinen Weg kreuzen, und ruft freundlich „Hola“, als er seinem peruanischen Landsmann Antonio Pedraza vor der Bio-Taverne begegnet, die dieser nahe dem kleinen Dörfchen Vilaflor in der sanfthügeligen Landschaft betreibt. Antonio – fünfzig, braungebrannt, in einem früheren Leben ein südamerikanischer Seifenopernstar, heute Winzer – plaudert mit Andrés durch das offene Wagenfenster; das Hupen der Autos, die sich hinter dem Van stauen, scheint ihn nicht zu stören.
Bevor er zum Abschied aufs Autodach klopft, geht Antonio raschen Schrittes über die Straße und holt noch eine Flasche seines erdigen Rotweins, den er hier auf der Insel keltert – aus kleinen Trauben, die dem trockenen Lavasand fruchtige Süße abtrotzen. „Für Susana“, sagt er lachend und reicht die Flasche durch das offene Fenster.
An der Kassa der Seilbahn, die – sofern der Südwestwind nicht zu stark bläst – täglich rund 2.200 Menschen beinah bis zum Gipfel des Berges hochzieht, steht Andrés’ Freundin dick eingepackt in einer roten Windjacke, auf der das Logo des Liftbetreibers prangt. Susana berät hier Touristen, die in Flip-Flops und Bermudas frierend windstille Ecken suchen, und gibt Auskunft zu dem Berg, dessen Spitze rund 1.300 Meter über ihr liegt.
Ihr Quartier im Süden haben die Urlauber bei T-Shirt-Temperatur verlassen, gut 40 Kilometer weiter nördlich zittern sie bei kühlen sechs Grad und böigem Wind. Andrés holt sich von Susana einen Kuss und bindet sich die Schuhe, deren Sohlen glatt sind wie die eines Tennisschuhs. Dann beginnt er den Marsch Richtung Gipfel.
Obwohl der 45-Jährige die Aussicht hier besser kennt als die meisten, schwärmt er: „So schön!“. Und er zeigt Richtung Tal: Als hätte jemand Bahnen aus Schlagobers um den Gipfel des Berges gesprüht, drängt sich das Wolkenmeer an den Stein. Dort, wo die flauschige Decke aufreißt, lässt sich tief unten die Küste erahnen sowie Teile des Regenwaldes, die zum Nationalpark gehören.
Zwölf Wanderwege, sogenannte Senderos, erschließen das Schutzgebiet, das das größte und älteste dieser Art auf den Kanaren ist. Sowohl geübte wie auch weniger geübte Wanderer finden hier ansprechende Routen, die zu den imposanten Basaltsäulen Los Órganos, durch üppige Kiefernwälder oder zu den Bimssteinfeldern am Fuße der Montaña Blanca führen.
Das dunkle, tiefbraune Vulkangestein, auf dem Andrés Richtung Teide-Gipfel geht, ist lose und krümelig. In den Ritzen zwischen den Steinen wuchern Blumen, Kakteen und anderes widerstandsfähiges Grün – den kargen Bedingungen zum Trotz, als wollte es durch seine schiere Existenz in dieser Mondlandschaft den irdischen Beweis antreten.
Das letzte Wegstück zum Gipfel ist das einzige, auf dem Wanderguide Andrés sein Handy in der Jackentasche lässt. Während ihm weiter unten nie die Luft knapp wird, während er mit Kunden neue Touren vereinbart oder wenn ihn Susana anruft, spart er sich jetzt den Sauerstoff und lässt das Telefon bimmeln – das unablässige Piepsen irgendeines Standardklingeltons ist der Soundtrack zu Andrés’ Bergtouren.
Die Luft nahe dem Gipfel ist gesättigt vom Geruch von Schwefel, der in Schwaden aus Felsspalten tritt. „Der Teide“, erklärt Andrés, „schläft seit über hundert Jahren, erloschen ist er aber nicht.“ Ein rastender Riese. Den Blick von oben über die ganze Insel, weiter bis La Gomera und die gesamten Kanaren genießt Andrés nur kurz – weil Susana auf ihn wartet; noch hat er drei Stunden Abstieg vor sich.
Auf der Heimfahrt, bei der Andrés allein im Auto sitzt, wird er nicht anhalten, um zuzusehen, wie die Sonne glühend ihm weiter unten nie die Luft knapp wird, während er mit Kunden neue Touren vereinbart oder wenn ihn Susana anruft, spart er sich jetzt den Sauerstoff und lässt das Telefon bimmeln – das unablässige Piepsen irgendeines Standardklingeltons ist der Soundtrack zu Andrés’ Bergtouren.
Auf der Heimfahrt, bei der Andrés allein im Auto sitzt, wird er nicht anhalten, um zuzusehen, wie die Sonne glühend hinter den Wolken verschwindet; wie sich pastelliges Licht über die Mondlandschaft gießt und die Nacht tausende Sterne in den schwarzen Himmel zaubert. Er wird seinen Fuß auf das Gaspedal drücken und laut Heavy Metal hören.
Es ist die Zeit, in der die „Domingueros“ längst in ihren Hotels beim Abendessen sitzen, sodass Andrés nur halb so lang für die Strecke durch den Regenwald braucht. Susana wird später Antonios Rotwein öffnen, ein Glas für sich, eines für Andrés einschenken und zuhören, wie ihr Freund die Geschichte des Winzers erzählt, der vor 20 Jahren in Südamerika ein berühmter Fernsehstar war.
Und der, wie er selbst, alles hat stehen und liegen lassen, um im wilden Norden Teneriffas zu leben, unter den Sternen, die hier tausendfach funkeln. So wie in der Atacama-Wüste.
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