L'Eroica: Die Schönheit des Schindens
Foto: Paolo Martelli
von Martin Foszczynski
Im kleinen Gaiole in Chianti treffen sich jedes Jahr Anfang Oktober Tausende Fahrrad-Enthusiasten aus der ganzen Welt, um gemeinsam durch das schönste Stück der Toskana zu radeln. Auf Flohmarkt-Rennrädern und über „strade bianche“ – die alten Schotterstraßen der Region. Ein Leidensbericht.
Bregan Koenigseker redet nicht um den heißen Brei. „Die 75 Kilometer sind wirklich, wirklich hart“, richtet er uns vom vorderen Ende des Busses aus. „Danach werdet ihr absolut erledigt sein.“ Über die 135 und 209 Kilometer-Strecken, die neben einer 46-km-Schnuppervariante theoretisch ebenfalls zur Auswahl stehen, gibt er keine Auskünfte.
Wir, das sind eine Handvoll Outdoor-Journalisten aus ganz Europa, die an der L’Eroica teilnehmen werden – der berühmtesten Vintage-Rad-Veranstaltung der Welt. Sie findet alljährlich Anfang Oktober in Gaiole, einem Städchen im malerischen Weinbaugebiet Chianti, statt. Dass unser Gastgeber Bregan leere Drohungen verbreitet, glaubt keiner mehr. Mit jeder Spitzkehre, die sich der Bus zu unserer Herberge – einem ehemaligen Kloster im Hinterland von Gaiole – hochschraubt, schmilzt ein Stück meines Toskana-Bilds dahin. Das war: Sanfte Hügeln, von Zypressen flankierte Wege, auf denen glückliche Menschen mühelos von Weingut zu Weingut flanieren. „Krackkkk“. Der Busfahrer rammt den kleinsten Gang ins Getriebe. Der Bus schleppt sich schnaufend die letzten hundert Meter rauf.
Den nächsten Tag – es ist der Tag vor der großen Rundfahrt – verbringen wir in Gaiole. Der Ort platzt aus allen Nähten, es herrscht bunte Festivalstimmung. Über 7.000 Teilnehmer aus rund 50 Ländern – mehr konnten die Veranstalter im 20. Jahr des Events nicht mehr aufnehmen – schieben sich an Ständen mit allen erdenklichen Fahrradteilen, Retro-Klamotten und aus Radmänteln gefertigtem Schmuck durch die Gassen. Viele nutzen den Flohmarkt, um sich noch mit dem passenden Outfit zu versorgen, einige stehen schon wie anno 1954 oder 1978 da, Schnauzbart und Lockenkopf inklusive.
Im Verleih neben dem Start-Ziel-Bereich fasse ich mein Arbeitsgerät aus. Den Lenker ziert ein Hufeisen-Emblem, auf dem silber-grauen Stahlrahmen steht in gelber Schrift „Aldo Simonato“. Nie gehört. Vor meinem geistigen Auge sehe ich einen toskanischen Bauer, der nachts im Hinterhof mit rußgeschwärzten Händen Rennräder schmiedet. Bis auf die Hinterbremse funktioniert alles ganz passabel. Ich kann mich glücklich schätzen – manche Kollegen haben weitaus desolatere Drahtesel ausgefasst. Den strengen L’Eroica-Statuten entsprechen sie aber alle. Erlaubt sind nur Rennräder aus Stahl, die vor 1987 hergestellt wurden. Sie bringen die nötige Robustheit auf, um auf den rumpligen Schotterstraßen der Toskana zu bestehen. Trikots aus Elastan sind ebenso tabu wie Klickschuhe. Im Idealfall trägt man Trikots aus Wolle, Lederschuhe und Baumwollkappen anstatt eines Helms. Ganz so wie es Gino Bartali und Fausto Coppi, die großen italienischen Rad-Champions der Nachkriegszeit, während ihrer heroischen Höllenritte taten.
Das Lebensgefühl dieser Zeit wieder heraufzubeschwören und die unbefestigten „strade bianche“ von einst zu erhalten – das waren die Ziele, als ein kleiner Freundeskreis 1997 die L’Eroica aus der Taufe hob. Ganze 92 Teilnehmer wagten sich damals auf die Piste. Heute ist die gesamte L’Eroica-Strecke ausgeschildert und ganzjährig befahrbar – die L’Eroica selbst ein gut geöltes Unternehmen mit Ablegern von Kalifornien bis Kapstadt, gebrandeten Artikeln und einer Coffeeshop-Kette.
Tag der Abrechnung
Als wir um 7 Uhr früh im noch nebelverhangenen Gaiole in der Start-Schlange stehen, sind die ersten Fahrer schon zwei Stunden auf der Piste. Wer sich über die 208 Kilometer Richtung Siena aufgemacht hat, wird das Zielgelände wohl nicht mehr bei Tageslicht wiedersehen. Von Anspannung ist dennoch keine Spur. Die Leute feixen, bewundern gegenseitig ihre verrückten Outfits und machen zusammen Selfies.
Endlich geht es los. Mit Bregan als Anführer des „Team Brooks“ möchten wir geschlossen im Ziel ankommen. Ein bekanntes Gesicht gesellt sich plötzlich zu uns. Erik Zabel, der mittlerweile pensionierte deutsche Rennradprofi, sagt im lockeren Aufwärmmodus strampelnd „Hallo“. Welche Strecke er in Angriff nimmt? Unwichtig. Das Ziel sei es, im Laufe des Tages möglichst viele schöne Italienerinnen zu sehen – spricht’s und rauscht grinsend davon.
Die ersten zwei, dreihundert Höhenmeter – in Summe werden es 1.600 sein – führen hinauf zur Burg Brolio. Schon jetzt tauchen einige Pannen-Opfer am Straßenrand auf, doch niemals alleine. Zwei, vier oder mehr helfende Hände sind immer gleich zur Stelle, gemeinsam wir an Schläuchen gezerrt, Ketten hantiert oder ein Ersatzreifen aufgepumpt. Zusammenhalt ist bei der L’Eroica wichtiger als der Ziel-Sprint. Bis jetzt bin ich zufrieden. Ich habe gefühlt das halbe Feld überholt und mich dabei nicht völlig verausgabt. Nur das Wolltrikot ist schon von Schweiß durchtränkt – ein Shirt aus Funktionsfaser darunter anzuziehen, wäre keine schlechte Idee gewesen.
Weiße Straßen, roter Wein
Ab Brolio geht es so richtig ins Terrain der „weißen Straßen“. Hügel rauf, Hügel runter, Zypressen und Kastell-artige Anwesen am Horizont. Toskana wie aus dem Bilderbuch. Man ist verleitet, Foto-Pausen einzulegen – dagegen sprechen der flüssige Tritt und ein älteres Ehepaar, das sich auf einem Tandem strampelnd erstaunlich flott fortbewegt und immer wieder zum Überholen ansetzt. Ein bisschen Sportsgeist muss auch bei der L’Eroica sein.
Erst nach rund 40 Kilometern und zwei weiteren Bergwertungen kommt die erste Stempel-und Verpflegungsstation, keinen Kilometer zu früh! Großer Andrang an den Ständen. Ich stopfe Nutella- und Marmeladebrote in mich hinein – ein Happen, der nach Hackfleischaufstrich aussieht, fühlt sich seltsam feucht an: Es ist in Rotwein getränktes Weißbrot mit Zucker. Schmeckt nicht schlecht. Ich nehme noch vier davon.
Allmählich schleicht sich der Verdacht ein, dass dieser Tag noch eine zähe Partie werden könnte. Immer öfter bauen sich furchteinflößende Anstiege vor den müder werdenden Oberschenkeln auf. Die Beschaffenheit der Snacks scheint darauf zu reagieren: Die nächste Verpflegungsstation in Panzano bietet Schmankerln vom lokalen Metzgermeister: Schmalzbrote und Salami vom Schwein – der Rotwein wird mittlerweile in Plastikbechern ausgeschenkt.
„Let’s go boys!“ Leicht benebelt trete ich wieder in die Pedale. Nichts in Bregans lässiger Aufforderung deutete auf das kommende Drama hin. Wir stehen vor der Schlüsselstelle der Route – ein langgezogener, bizarr steiler und vom Regen schlammiger Anstieg zum Castello di Volpaia. Ich werfe alles hinein, was Lunge und Oberschenkel hergeben, während um mich herum ein Leidensgenosse nach dem anderen vom Sattel steigt. Schieben ist keine Schande, geht es mir immer wieder durch den Kopf. Nur noch 200 Meter – ich hole das letzte Quäntchen Kraft heraus. Geschafft! Am Straßenrand klatschen Kinder ab – nicht der beste Zeitpunkt, um sich zu übergeben. Ich rolle einfach weiter, Gott Lob taucht gleich die nächste Labstelle auf. Es gibt toskanischen Eintopf und Rotwein.
Auf der Abfahrt schlägt Bregan einen Salto in den Straßengraben. Ich weiß es nur vom Hörensagen, ließ ich doch bergab ein wenig abreißen. Über bis zu 20 Prozent steile Feldwege rumpelnd die Hand zum Schalten vom Lenker zu nehmen ist für mich auch nach 60 km noch kein Klacks. Immerhin: Bregan sieht ok aus. „Vielleicht doch zu viel Wein“, sinniert er und steigt wieder aufs Rad. Mein Angsthasen-Fahrrad-Helm erscheint mir jetzt wieder durchaus vernünftig. Auf den kommenden Anstiegen erinnert das Rennen mittlerweile eher an einen italienischen Nationalwandertag.
Im Schlussteil wird die Strecke endlich ebener. Die Ausblicke auf den letzten Kilometern zurück nach Gaiole sind ungemein schön. Wir rollen geschlossen über die Ziellinie. Am Straßenrand klatschen Schaulustige Beifall – mehr Andrang herrscht aber innerhalb der Absperrung. Es heißt Schlange stehen zur Medaillenübergabe. Dahinter: Abgekämpfte, aber fröhliche Gesichter. Die L'Eroica-Helden füllen die Gastgärten, sitzen auf dem Gehsteig. Es wird mit Bier angestoßen und geraucht. Einige schlendern in Richtung Pasta-Party im großen Bierzelt.
Es mag am Wein liegen, doch am Ende des Tages – nach dem wohlverdienten Dinner – erinnere ich mich nicht mehr genau an den Streckenverlauf. Stattdessen sehe ich Gesichter vor mir – schmerzverzerrte, lachende. Sie gehören zu Sirs in Tweed-Anzügen, flotten Ladies, Hipstern und Holländern. Man mag es nicht glauben, aber ich wünsche mir diesen starren Stahlbock unter meinem Hintern zurück, der sich – aller Anstrengung zum Trotz – bald in ein Gefühl aufgelöst hat. In ein schönes Gefühl. Dass alles rollt und keiner verliert.
Danke an BROOKS England, Sponsor der L'Eroica 2016, für die Einladung nach Gaiole.
Infos und Adressen: L'Eroica Gaiole in Chianti
Anreise: Per Flugzeug über Pisa oder Florenz.
Unterkunft-Tipp: Badia a Coltibuono. Das ehemalige Benediktiner-Kloster aus dem 11. Jahrhundert liegt 5 km nördlich von Gaiole. Mit Pool und Gourmet-Restaurant.
L’Eroica-Essentials:
Die Veranstaltung ist nicht ungefährlich, dafür sorgt die Mischung aus ungewohnten Fahrverhälnissen, Rotwein und gelegentlichem Gegenverkehr (die Straßen sind nur teilweise für den öffentlichen Verkehr gesperrt). Angemeldete Teilnehmer sind unfallversichert, wer dennoch ein mulmiges Gefühl hat, sollte – dem „Dress Code“ zum Trotz – einen Helm tragen.
Reifendefekte stehen an der Tagesordnung: 1-2 Ersatzmäntel mitnehmen – sei es für sich selbst oder zum Herschenken.
Sneaker sind eine gute Alternative zu klassischen (aber teuren) Leder-Radschuhen.
Eroica weltweit:
Mittlerweile gibt es neben der Mutter-Veranstaltung in Gaiole im Oktober (nächster Termin 2024) weltweit einige L’Eroica-Ableger, die das ganze Jahr über Rad-Fans anziehen:
März: Südafrika
April: Kalifornien
Mai: Toskana (Eroica Primavera)
Mai: Japan
Juni: Spanien
Juni: England
Juli: Niederlande
Dezember: Uruguay
Alle Infos auf der offiziellen Eroica-Webseite.
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