Das große Rätsel um das Gletscherrad
Edith Hessenberger ist Leiterin der Ötztaler Museen, hat Ethnologie und Geografie studiert und erforscht besonders gerne die Geschichte der Bergwelt. Ein Rätsel kann aber auch sie nicht lösen: Wie kam das Rad auf den Gletscher? Deshalb bittet sie euch um Hilfe: Was könnte damals auf 3.000 Metern passiert sein? Macht mit bei unserem Schreibwettbewerb für Kinder! (Einsendeschluss: 30. Juni 2019)
In den heißen Sommertagen schmelzen die Gletscher besonders stark und in den letzten Jahren gab das Eis immer wieder spannende Dinge frei, die über Jahre, Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende eingefroren waren. Die Gletschermumie „Ötzi“ kennt ihr wohl alle – sie ist der berühmteste Fund.
Vergangenen August blitzte das Gletschereis in der strahlenden Sonne, als zwei Bergsteigerinnen auf 3.000 Meter Höhe ein Fahrrad entdecken.
Was beziehungsweise wer hat denn bitte ein Fahrrad auf einem Gletscher in dieser Höhe verloren? Ötzi war es kaum. Er starb vor 5.000 Jahren in den Bergen – und damals gab es bekanntlich noch keine Fahrräder.
Das Fahrrad wurde in die Ötztaler Museen gebracht und von Archäologen untersucht. Das Ergebnis: Das Fahrrad ist höchstens 100 Jahre und mindestens 60 Jahre alt.
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Was ist da bloß passiert?
Du kannst sicherlich gut Fahrrad fahren. Aber hast du schon mal versucht, dein Fahrrad zu tragen? 6 Stunden lang auf einen der höchsten Berge in den Alpen?
Das Gletscherfahrrad ist 15 Kilogramm schwer. Und am Rotmoosjoch, wo man es gefunden hat, da gibt es keine guten Wege – schon gar keine Radwege. Dort gibt es steile Felsen, lange Winter voller Schnee und Lawinen, und einen Gletscher, der bis vor 60 Jahren noch tiefe, gefährliche Gletscherspalten hatte. Das Fahrrad wurde an einem sehr gefährlichen, unwegsamen Ort gefunden. Also ein einsamer Ort, an den sich keine Menschenseele hinwagt?
Ganz im Gegenteil! In den letzten Jahrhunderten war dort oben ganz schön viel los. Viele Menschen besuchten Freunde und Familie, die hinter den Bergen wohnten. Verkäufer trugen ihre Waren über die Berge. Menschen nahmen den schwierigen Weg sogar auf sich, um in die Kirchen zu gehen. Die Berge waren früher für die Bevölkerung kein Hindernis, sie waren ein alltäglicher Weg. Doch dann kam die neue Grenze.
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100 Jahre Grenze
Im Jahr 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, zogen die Sieger eine Grenze durch Tirol und teilten es in Süd- und Nord- bzw. Osttirol. Plötzlich gehörte die eine Hälfte der Ötztaler Alpen zu Italien, die andere Hälfte verblieb bei Österreich. Das änderte viel für die Menschen, die hier lebten. Aber sie ließen sich nicht davon abhalten, weiter die alten Wege über die Berge zu gehen, wie sie es immer getan hatten.
Diese Grenze wird heuer 100 Jahre alt – vielleicht so alt wie das Gletscherrad? Lass uns mal genauer nachsehen, wer in diesen letzten 100 Jahren eigentlich so auf den Gletschern unterwegs war, um die Grenze zwischen Italien und Österreich zu überqueren…
Waren es Bauern und Hirten?
Unglaublich, aber wahr: Bis heute treiben Südtiroler Bauern riesige Schafherden über die Gletscher ins Ötztal, um sie dort im Sommer weiden zu lassen. Das machen sie schon seit Jahrhunderten. Und auch sonst gab es viele Verbindungen über die Berge: Männer und Frauen gingen 8 bis 10 Stunden zu Fuß über die Joche, um beim Mähen oder anderen bäuerlichen Arbeiten zu helfen. Manche verliebten sich auch und heirateten – und mussten später mit ihren Kindern zu Fuß über die Gletscher, um die Großeltern zu besuchen.
Aber: Ob sie dazu Fahrräder bei sich hatten?
Waren es Schmuggler?
Wenn man wertvolle Waren wie Wein, Tabak, Zucker oder auch Rinder oder Schafe in einem anderen Land verkaufen möchte, muss man an der Grenze Zölle zahlen. Versteckt man die Waren aber im Rucksack oder geht bei Nacht und Nebel über die Grenze, spart man sich viel Geld. Aber das ist natürlich verboten und wird streng bestraft. Menschen, die das trotzdem machen, nennt man Schmuggler. Und von ihnen gab es in Nord- und Südtirol sehr viele, besonders in den Gegenden entlang der Grenze.
Denkst du, sie könnten vielleicht mit einem Fahrrad unterwegs gewesen sein?
Waren es Flüchtlinge oder Soldaten?
Zwei furchtbare Weltkriege hat es in diesen vergangenen 100 Jahren gegeben. Der Erste Weltkrieg war die Ursache für die neue Grenze durch Tirol. Im Zweiten Weltkrieg mussten noch mehr Menschen sterben, viele wurden in diesen Jahren auch getötet und verfolgt, weil sie aufgrund ihrer Religion, ihres Aussehens oder ihrer Sprache anders waren. Zahlreiche Menschen versuchten über die Berge ihren Verfolgern zu entkommen und so ihr Leben zu retten.
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, flüchteten viele Soldaten vor ihren Gegnern. In den Ötztaler Alpen kamen hunderte deutsche Soldaten über die Grenze in den Bergen, um schnell und ungesehen nach Hause zur Familie zu kommen.
Wer weiß, ob sie nicht vielleicht ein Fahrrad dabeihatten?
Waren es Freiheitskämpfer?
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieben Nord- und Südtirol durch eine Staatsgrenze geteilt. In Südtirol musste Italienisch gesprochen werden, Familien- und Ortsnamen waren in die italienische Sprache übersetzt worden, und die deutschsprachige Bevölkerung hatte es schwer, Arbeit zu finden.
Viele Menschen störte das sehr. Einige begannen, für die „Freiheit von Südtirol“ zu kämpfen. Sie wollten, dass Südtirol wieder zu Österreich gehört. Dafür kämpften sie auch mit Sprengstoff und Waffen. Sie sprengten Brücken und Strommasten. Damit die italienische Polizei sie nicht erwischte, schmuggelten sie den Sprengstoff und die Waffen auch über die Berge in den Ötztaler Alpen.
Aber: Ob sie mit einem Fahrrad unterwegs waren?
Waren es Mountainbiker?
Heute sind viele Menschen mit Fahrrädern in den Bergen unterwegs. Dazu gibt es gute Straßen, Forstwege und Trails. Diese Wege gab es vor 60 Jahren noch nicht. Dennoch machten viele Menschen in den Ötztaler Alpen Urlaub und stiegen auf die Berge.
Was denkst du: War vielleicht einer von ihnen mit einem Fahrrad unterwegs – oder wollte vielleicht eine Wette gewinnen, bevor er das Fahrrad verschwitzt und verärgert in eine Gletscherspalte warf?
Schreibwettbewerb: Hilf uns, das Rätsel zu lösen!
Es ist uns bisher nicht gelungen, die Geschichte des Gletscherfahrrades zu erforschen. Deshalb bist DU gefragt: Hilf uns, nachzudenken, was tatsächlich passiert sein könnte, dass ein Fahrrad auf einem Gletscher in 3.000 Meter Höhe herumliegt. Schick uns bis 30. Juni 2019 Deine Geschichte! Alle Infos zur Teilnahme findest du hier:
Willst du mehr wissen?
Das Gletscherfahrrad ist in diesem Sommer im Heimatmuseum in Längenfeld zu sehen.
Die Geschichte der Grenze und die mögliche Geschichte des Fahrrades wird in einer Ausstellung (ab 27. Juni täglich von Sonntag bis Freitag) vorgestellt.
Wir haben auch ein Buch zu diesem Thema geschrieben. Es erscheint mit der Eröffnung der Ausstellung am 27. Juni und wird in den Museen aufliegen sowie online bestellbar sein.
Komm doch uns und besuche uns im Museum!
Wir freuen uns auf dich!