Segelfliegen über Tirol
Foto: Philip Platzer
Hier dröhnt kein Motor, und keine Tankanzeige bestimmt, wie weit es noch geht. Segelfliegen ist der Inbegriff von Freiheit über den Wolken. Nur der Wind hat ein wichtiges Wörtchen mitzureden.
Rosamaire Schwaiger für das Bergweltenmagazin Februar/März 2019
Den ganzen Vormittag lang kam der Wind solide aus Westen. Aber jetzt, kurz vor Mittag, hat er plötzlich Lust auf Abwechslung. Es ist kein Orkan, der an diesem sonnigen Frühsommertag über den Innsbrucker Flughafen weht, mehr eine sanfte Brise. Aber das Lüfterl kommt nun aus östlicher Richtung, und das erfordert eine Änderung des Plans.
Weil man nur gegen den Wind starten kann, müssen wir ans andere Ende der Asphaltbahn übersiedeln. Das heißt konkret: Wir müssen den 420 Kilo schweren Arcus D-5909 knapp einen Kilometer weit schieben. Auf dem Boden ist dieses elegante, grazile Segelflugzeug auch nicht mobiler als ein zu groß geratener Rollkoffer.
Zum Glück ist Segelfliegen ein Mannschaftssport, jedenfalls zu ebener Erde. „Im Verein helfen alle mit und arbeiten zusammen“, sagt Tobias Furtschegger, Mitglied der Innsbrucker Segelflieger Vereinigung (ISV) und mein Pilot. Tatsächlich sind sofort zwei Freunde zur Stelle, um den Arcus sanft zur Startbahn zu ziehen.
Als wir ankommen, bläst der Ostwind schon etwas kräftiger. Der Aufwand hat sich gelohnt; gleich kann es losgehen. Die Innsbrucker Segelflieger haben direkt vor dem Hangar-Tor einen der schönsten Flugräume Österreichs. Im Süden liegen die Gletscher des Stubaitals, nordöstlich das Karwendelgebirge und der Achensee, im Westen die Gipfel des Arlbergs. Mehr Postkartenpanorama ist topografisch nicht herstellbar.
Die Chefs sind Wind und Wetter
Es soll erst einmal in Richtung Süden gehen. Unser Schleppflugzeug, die Husky OE-ARD, fährt los. Als sich das Seil spannt, hebt der Arcus fast sofort vom Boden ab. Leicht, mühelos und ganz selbstverständlich fühlt sich das an. Schnell ist klar, dass diese Art des Fliegens erfreulich wenig mit dem zu tun hat, was wir aus dem Ferienjet kennen: Der Wind pfeift um die Tragflächen, der Horizont schwankt in alle Richtungen, und jede Turbulenz gibt dem Magen einen kräftigen Schubs nach oben.
Der in Segelflugzeugen häufigste Dialog dürfte ungefähr so gehen: Pilot: „Wird dir eh nicht schlecht?“ Passagier: „Äh, na ja, nein, geht schon.“ Pilot: „Falls doch, musst du nur ganz fest auf einen Punkt vor dir auf dem Instrumentenbrett schauen.“ Das hilft tatsächlich.
Aber die Aussicht ist gerade viel zu schön, um sie gegen einen starren Blick auf Variometer, Kompass oder Höhenmesser zu ersetzen. In nicht einmal 400 Meter Höhe fliegen wir über Innsbruck und über den Inn, der aus der Vogelperspektive flaschengrün schimmert. Kurz vor der Bergiselschanze drehen wir rechts ab.
Unter uns wird die Brennerautobahn immer kleiner, links ist der Patscherkofel zu sehen, ein Stückchen weiter hinten die Serles, und ganz hinten, am Talschluss, glitzern die schneebedeckten Gipfel der Stubaier Alpen in der Sonne. Solange wir am Schleppflugzeug hängen, hat der Pilot nicht viel zu tun.
Tobias kann also über das Vereinsleben plaudern. Rund 100 aktive Mitglieder hat der ISV derzeit, darunter viele, die schon seit Jahrzehnten dabei sind. Wen die Leidenschaft einmal gepackt hat, den lässt sie oft ein Leben lang nicht mehr los. „Viele Leute glauben, dass Segelfliegen nur etwas für reiche Leute ist. Aber das stimmt nicht“, sagt Tobias.
Für 988 Euro Jahresgebühr könne jedes Mitglied unbeschränkt fliegen. Starts mit der Seilwinde sind dabei inkludiert, nur das Schleppflugzeug kostet pro Einsatz etwa 70 Euro extra. Es dauert auch nicht ewig, bis man die Grundzüge des Segelflugs gut genug beherrscht, um allein abzuheben.
In drei Monaten sollten die Basics sitzen, für ganz Eilige gibt es auch einen zweiwöchigen Intensivkurs. Wobei Eile und Ungeduld an sich keine guten Voraussetzungen für diesen Sport sind. Es gehört zum Reiz des Segelfliegens, dass es eben nicht auf Knopfdruck funktioniert. Moderne Technik und Erfahrung helfen natürlich, aber letztlich bleiben Wind und Wetter die Chefs im Cockpit.
Gibt es keine Thermik, wird der beste Pilot nicht weit kommen. Braust der Föhn gegen die Nordkette, kann auch ein Anfänger stundenlang seine Runden oberhalb der Berggipfel drehen. Beim Segel fliegen könne man nichts erzwingen, wird David Richter-Trummer, langjähriges ISV-Mitglied und mehrfacher Staatsmeister im Streckenflug, später erzählen.
„Wie weit du kommst, hängt von vielen Details ab, und nur ein paar davon kannst du selber beeinflussen.“ Dennoch hat David gegenüber der Konkurrenz einen nicht unwesentlichen Startvorteil: Er ist von Beruf Meteorologe, kennt sich also bestens aus mit Luftströmungen, Gewitterzellen und dem Aufbau von Tief- und Hochdruckgebieten. Der Job sei schon sehr hilfreich, gibt David zu. „Jedenfalls weiß ich ein paar Tage vorher, wann ich mir freinehmen sollte, um fliegen zu gehen.“
Sein persönlicher Rekord liegt bei 1.280 Kilometern – am Stück, versteht sich. Das größte Hindernis für viele potenzielle Überflieger ist der Zeitaufwand. Die Mitglieder des ISV verpflichten sich, 45 Stunden pro Jahr im Verein mitzuhelfen – etwa bei der Wartung der Flieger, der Ausbildung des Nachwuchses oder der Betreuung der Website.
„Wir müssen uns gegenseitig unterstützen, sonst funktioniert es nicht. Der Vereinsgedanke ist beim Segelfliegen besonders wichtig“, sagt Tobias. „Es gibt Phasen, in denen ich praktisch auf dem Flugplatz wohne. Aber das ist okay, drei Viertel meines Freundeskreises treffe ich ohnehin hier. Wir sind wie eine große Familie.“
Wenn die Nabelschnur gekappt wird
Das Schleppflugzeug hat seine Aufgabe erfüllt, wir sind hoch genug, um auszuklinken. Für den Passagier ist es ein aufregender Moment, wenn die Nabelschnur zur Husky gekappt wird. Jetzt muss die Thermik allein dafür sorgen, dass der Arcus heil wieder heimkommt – und natürlich die Erfahrung des Piloten.
Tobias Furtschegger ist 30 Jahre alt und fliegt, seit er 16 war. Nach einem halben Leben in der Luft weiß er genau, wo sich Aufwind (im Fachjargon „Bart“ genannt) finden lässt. Grundsätzlich sei die sonnige Seite des Hangs vielversprechender als die schattige, erklärt er. Bilden sich oberhalb eines Gipfels Wolken, sei das meistens ein heißer Tipp.
Es kann auch nicht schaden, den Dohlen zuzuschauen, die an den Hängen entlangfliegen. Sie nützen ebenfalls Aufwinde, um kraftsparend zu fliegen. Und sie beherrschen das Gleiten noch ein wenig besser als die Menschen. Für die Bergsteiger, die auf Wanderwegen unter uns unterwegs sind oder auf Gipfel stehen, muss es sehr beeindruckend aussehen, wie sich der Arcus in hohem Tempo den Felswänden nähert.
Scheinbar im letzten Moment bremst er ab und kurbelt in großen Achterschleifen in der Thermik wieder nach oben. Denn Segelfliegen ist kein gefährliches Hobby. Schwere Unfälle passieren nur selten. „Unsere Flugzeuge sind sehr belastbar und haben gutmütige Flugeigenschaften“, erklärt Tobias.
Zum Fürchten ist keine Zeit
Um zu demonstrieren, was er genau damit meint, nimmt er die Nase des Flugzeugs leicht nach oben und reduziert damit langsam die Geschwindigkeit, bis der Arcus fast in der Luft steht. Als Nächstes müsste der Flieger eigentlich ins Trudeln geraten und abstürzen, denkt der Laie.
Aber zum Fürchten gibt es keinen Grund; sobald die Nase wieder nach unten zeigt, nimmt die Maschine Fahrt auf und gleitet dahin, als wäre überhaupt nichts gewesen. Allerdings gibt es Umstände, die auch der beste Pilot nicht vorhersehen kann. Manchmal lässt die Thermik nach, oder der Gegenwind wird unerwartet stärker.
Der Weg zurück zum Flughafen ist dann zu weit, und es gilt, einen anderen Landeplatz zu suchen. Segelflugzeuge sind diesbezüglich nicht anspruchsvoll, eine flache Wiese reicht eigentlich völlig. Aber auch die muss man im gebirgigen Tirol einmal finden. Es gibt Onlinekataloge, in denen geeignete Felder verzeichnet sind.
Und einmal im Jahr rücken ein paar ISV-Mitglieder aus, um vor Ort nachzusehen, „ob noch alles passt und nicht vielleicht mitten auf dem Feld etwas gebaut wurde“, sagt Tobias. Es gilt unter Segelfliegern nicht als peinlich, gelegentlich in der Botanik zu landen. Eher im Gegenteil: „Wenn ich pro Jahr nicht mindestens zwei, drei Außenlandungen machen muss, weiß ich, dass ich nicht genug ausprobiert habe“, meint etwa Langstreckensegler David Richter-Trummer.
Bei manchen Wettbewerben schaffe es fast keiner der Teilnehmer zum Flugplatz zurück. Und in einigen Flugschulen sei die Außenlandung sogar ein verpflichtender Teil der Ausbildung, sagt der Experte. Im Verein ist es üblich, als Dank für den Heimtransport ein Abendessen oder ein, zwei Gläschen Bier zu spendieren.
„Und natürlich solltest du selber auch bereit sein, einen Kollegen irgendwo abzuholen“, meint David. Über eine Außenlandung muss Tobias diesmal nicht nachdenken. Die Bedingungen sind nahezu perfekt. Mühelos schraubt sich der Arcus die Hänge entlang nach oben. Zwischendurch fliegen wir oberhalb von 3.000 Metern; das reicht, um über die Gipfel und wieder ins Inntal zu kommen.
Wir drehen noch eine Runde über das Karwendel bis zum Achensee, der sich wie ein türkises Halsband an die Berge schmiegt. Es ist ein sehr spezielles Gefühl von Freiheit, sich so vom Wind tragen zu lassen. Kein Motor läuft, keine Tankanzeige sagt uns, wie weit wir fliegen können. Nach fast drei Stunden landen wir sanft auf dem Innsbrucker Flughafen. Der Arcus wird noch sorgfältig geputzt. Kein Staub und keine toten Insekten sollen auf seinen weißen Flügeln picken bleiben, während er im Hangar vom nächsten Ausflug träumt.
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