Wandern im Grödnertal
Im Grödnertal zeigt sich Südtirol von seiner allerschönsten Seite. Wandern mit Genussgarantie: Hier gibt’s auch am Berg perfekt gebrühten Espresso und Pizza aus dem Holzofen.
Mara Simperler für das Bergwelten Magazin Juni/Juli 2018
Eine oft inbrünstig verteidigte Überzeugung ernsthafter Wanderer lautet, dass die schönsten Ziele nur durch körperliche Anstrengung erreicht werden können. Diese Überzeugung wird bei einem Besuch auf der Seceda in Südtirol im Verlauf weniger Minuten widerlegt. Auf die Almfläche schwebt man nämlich völlig unangestrengt mit einer Gondel.
Es kann einem nach diesem entspannten Start allerdings trotzdem passieren, dass man direkt im Weltuntergang landet, wenn sich die Gondeltüren öffnen. Der Wind peitscht erst Regentropfen, dann Hagelkörner und Wasserströme über den Himmel, und wir flüchten ins Almhotel Col Raiser, direkt an der Bergstation, um den Guss auszusitzen.
Als der Himmel nach einer Stunde aufklart, wirken die grauen Felsen und die grünen Wiesen wie frisch gewaschen. In den Pfützen am Weg spiegeln sich die markanten Felsen der Dolomiten. Die Berglandschaft rund um das Grödnertal, 30 Kilometer östlich von Bozen, zählt zu den schönsten Vertretern der ohnehin meist sehr idyllischen Dolomiten – nicht zuletzt, weil allein auf der Seceda-Alm mehr als 20 Hütten stehen, so viele, dass man mehrere Wandertage bräuchte, um in allen einzukehren.
Da gibt es die urige Lech-Sant-Schwaige, in deren Gaststube ein Foto der Originalurkunde hängt, mit der Franz „der Erste von Gottes Gnaden, Kaiser von Österreich, König von Jerusalem, Hungarn, Böheim, der Lombardei und Venedig, von Dalmazien und Kroazien“ der Familie Runggaldier 1814 das Land verpachtete. Es gibt die Sofie-Hütte, ein modernes Alpenchalet mit perfekt temperiertem Weinraum, oder die nur wenige Quadratmeter große Malga Pieralongia.
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Vie ca da me – Komm her zu mir!
Über mit Holz befestigte Stufen steigt Flavio Prinoth vulgo Puciacia langsam auf. In der Hand hält er einen hölzernen Stock, mit dem er alle paar Schritte Steine aus Rinnen kratzt, damit das Wasser leicht ablaufen kann. Flavio ist auf dem Weg zu seinen Kühen, wolligen schottischen Hochlandrindern mit gebogenen Hörnern, die auf der Alm den Sommer verbringen.
„Vie ca da me!“, ruft Flavio auf Ladinisch. „Komm her zu mir!“ Und die Kühe trotten langsam auf ihren stämmigen Beinen zu dem 58-Jährigen, der in seine Jackentasche greift und eine Handvoll Kekse hervorholt. Obwohl die Hochlandrinder hier eigentlich nicht heimisch sind, fügen sie sich perfekt in die Landschaft ein.
„Ich kann keine Kühe halten, die ich jeden Tag melken muss“, erklärt Flavio. „Ich brauche nur Tiere, die mir die Weide mähen.“ Im Alltagsleben, unten im Tal, ist Flavio Fotograf, er lichtet Bäder, Zimmer und Empfangsräume für die Hotels ab. Von denen gibt es hier genug, sodass man mit diesem Job einen Teil seines Lebensunterhalts bestreiten kann.
Aber weil es fast undenkbar ist, in dieser Region zu leben, ohne mit den Bergen verbunden zu sein, hat er eine kleine Schwaige und eben seine Hochlandrinder. Er krault den riesigen Stier am Bauch und sagt mit einem Grinsen: „Was dem Menschen gefällt, gefällt auch dem Tier.“
Gelernt hat Flavio eigentlich wie so viele hier die Holzschnitzerei. Das Grödnertal ist bekannt für seine filigranen Krippenfiguren und kunstvollen Altäre, die die Menschen seit Jahrhunderten in den langen Wintern fertigten. Heute lässt sich damit freilich nicht mehr für alle ein Auskommen finden, und so ist Flavio nicht nur Teilzeit-Fotograf und -bauer, sondern auch Teilzeitschnitzer.
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Man kann sich gut vorstellen, dass die ästhetischen Berge das Ihre zu der Kunstform beigetragen haben, denn wenn man tagein, tagaus vom Tal auf diese perfekt geformten Felsen blickt, kommt wohl irgendwann der Drang, selbst etwas Erhabenes zu schaffen.
Eines der beeindruckendsten Zeugnisse dessen, was die Natur in diesem Feld geschaffen hat, erblicken wir, als wir am Aussichtspunkt der Seceda ankommen. Hier scheinen sich die Almwiesen wie eine Welle aufzubauen, von der man hofft, dass sie niemals bricht. Dieser grandiose Anblick ist zwar kein Geheimtipp, aber wer früh genug im Jahr und spät genug am Tag herkommt, hat ihn ganz für sich allein, wenn im Westen die Sonne untergeht und im Osten der Vollmond sich als große Scheibe auf den immer lichtblaueren Himmel schiebt.
Für den Abstieg müssen wir bereits die Stirnlampen einschalten. Wir verabschieden uns von Flavio und stolpern hinab zur Fermeda-Hütte, deren Fenster durch die Dunkelheit leuchten. Am Eingang stehen ein paar Bauarbeiter mit staubigen Hosen. Gerade wird ein neuer Lift gebaut, im Winter ist das Grödnertal ein beliebtes Skigebiet. Aber jetzt ist einmal Feierabend, und deswegen halten die Männer statt ihrer Werkzeuge Aperitifs in den Händen.
Dass es ziemlich frisch ist an diesem frühen Sommerabend, scheint sie nicht zu stören. In der Stube sorgt derweil das Herzstück der Küche für Wärme: ein richtiger Pizzaofen, auf 2.109 Meter Höhe. Das Grödnertal ist zwar eine ladinische Region, aber kulinarisch darf man sich hier auch auf die italienische Genussgarantie verlassen.
Und das heißt nicht nur, dass es am Berg perfekt gebrühten Espresso gibt, sondern eben auch im Holzofen gebackene Pizza, die Hüttenwirt Alfred Kostner jetzt mit Schwung aus ebendiesem holt. Als Kind hat er unten an der Seilbahn gewohnt, im Winter sind er und seine Freunde „von der Schule heim, haben zwei Knödel geschluckt und sind auf den Berg“. Seine Kinder haben den umgekehrten Weg, sie bringt Alfred jeden Tag mit dem Skidoo in die Schule.
Daheim ist es doch am schönsten
Man kann sich gut vorstellen, dass Kinder, die so aufwachsen, eine besondere Verbundenheit mit den Bergen verspüren. Viele Bergregionen haben mit Abwanderung zu kämpfen, aber wer hier unterwegs ist, bekommt das Gefühl, dass die Menschen im Grödnertal besonders stark verwurzelt sind. Alfred Kostner bestätigt das: „Wenn du hier aufgewachsen bist, ziehst du nirgendwo anders hin.“
Nicol Delago formuliert es am nächsten Tag ganz klassisch: „Daheim ist es doch am schönsten.“ In ihrem Fall darf man annehmen, dass das keine leere Floskel ist, denn Nicol kommt als Mitglied im italienischen Alpinski-Nationalteam ganz schön in der Welt herum. In wenigen Wochen wird sie zum Trainingscamp nach Ushuaia in Argentinien aufbrechen – dort herrscht Winter, wenn hier im Grödnertal der Sommer am schönsten ist.
Jetzt aber stellt sie unter Beweis, dass sie nicht nur mit 130 Sachen die Piste runterbrettern kann, sondern auch bergauf einen ziemlich guten Zug draufhat. Sechs Tage die Woche trainiert die Skirennläuferin, am Sonntag legt sie normalerweise eine Ruhepause ein, aber heute ist sie mit uns zum Cirjoch unterwegs.
Und während wir schon nach dem ersten steilen Anstieg zu keuchen beginnen, hat Nicol vermutlich immer noch ihren Ruhepuls. „Nein, nein“, lacht die 22-Jährige, aber vielleicht will sie nur nett sein, denn besonders angestrengt sieht sie nicht aus. Der Sport liegt in der Familie, schon Onkel und Tante fuhren Weltcuprennen, die Schwester ist im B-Kader des Nationalteams.
Während wir zwischen haushohen Felsblöcken wandern, springt Nicol, lässig auf die Stecken gestützt, zwischen kleineren Felsbrocken hin und her. An der Ciampëischarte verschnaufen wir und blicken auf der einen Seite auf den markanten Gipfel des Sassongher und auf der anderen Seite ins Langental, wo Nicol als Jugendliche im Sommer trainierte.
Wenn die Schönheit der Natur ein Indikator ist, ob die Menschen in einer Region bleiben, muss man sich im Grödnertal auch um die nächste Generation keine Sorgen machen.