In 40 Tagen über die Pyrenäen – Notruf im Nebel
Foto: Ana Zirner
Ana Zirner geht alleine vom Mittelmeer bis zum Atlantik über die Pyrenäen. Dass dieses Abenteuer nicht ungefährlich ist, zeigte sich in der zweiten Woche, in der sie einen Notruf absetzen musste. Uns schildert sie den dramatischen Tag.
Es ist ein klarer Morgen mit hellblauem Himmel, als ich merke, dass mein Körper endlich wieder richtig eingestiegen ist. Seit sieben Tagen bin ich unterwegs, der Anfang war schwer, aber jetzt habe ich Energie und Lust. Meine Füße tragen mich, und von ihnen aus aufwärts durchströmt mich Kraft. Ich atme die frische Luft ein und lasse sie zurück bis in die Zehen strömen. Es ist ein befreiendes Gefühl, das mir den nötigen Auftrieb für die langen Tagesetappen gibt. Am ersten Tag meiner zweiten Woche in den Pyrenäen ist mein Rucksack schwer, weil ich gestern ein Paket mit Lebensmitteln erhalten habe. Aus dem kleinen und recht tristen Ort Hospitalet-pres-l‘Andorre steige ich in Richtung Étang des Pédourés und weiter zum Pic de Rulhe auf. Als ich auf dem Gipfel stehe drücken sich unterhalb die Wolken ins Tal und ich mache mich nach einem kleinen Snack wieder auf den Weg. Ich bin ein bisschen rastlos, aber dabei sehr zufrieden, weil ich Lust habe, einfach zu gehen. Andorra, dessen Berge ich jetzt durchwandere, ist sowas wie die „Schweiz der Pyrenäen“. Da Andorra nicht in der EU ist, zahlt man horrende Preise für die Nutzung des Handynetzes und die Hütten sind fast zu schick und modern. Auch an den perfekt hergerichteten Wegen merkt man, dass hier viel Geld vorhanden ist. Die Biwakhütte, in der ich eine Nacht verbringe, bietet erstaunlich viel Komfort. Es gibt neue Matratzen, einen guten Herd und sogar einen Grundstock an Lebensmitteln, falls man mal etwas nicht dabeihat.
Aber ich will wieder hinüber nach Frankreich, und nehme mir vor, in einer doppelten Tagesetappe bis zum Étang Fourcat oder zu dem am See liegenden Refuge Fourcat zu gelangen. Mit circa elf Stunden wird das ein ziemlich langer Tag. Dann kommt alles anders, und es wir ein sehr langer Tag...
Ich erlebe meinen ersten alpinen Notfall. Und das völlig unvorhersehbar. Gegen 15 Uhr beginne ich meinen letzten Aufstieg des Tages. Aus dem Skigebiet Arinsal geht es hinauf zur Scharte neben dem Pic de Tristagne, um auf der anderen Seite in Frankreich Richtung Étangs Fourcats wieder abzusteigen.
Für 14 Uhr war ein Gewitter angesagt, das aber nicht gekommen ist. Der Himmel ist jetzt blau, die nächsten Wolken sind weit weg und ich habe nur noch 500 Höhenmeter und wenige Kilometer vor mir.
Je höher ich bin, umso spärlicher werden die Markierungen. Aus dem Tal zieht langsam Nebel herauf. Schließlich sehe ich keine Markierungen mehr und halte mich ab jetzt an meinen GPS-Track, dessen Wegdaten (wie fast alle gängigen Routenplaner) auf Open Street Map basieren. Ab und zu vergleiche ich den Weg sicherheitshalber mit der Garmin App, die zusätzlich andere Kartendaten abruft. Ich erreiche den Punkt, der mir von beiden Geräten als höchster Punkt des Weges angezeigt wird. Oben ist ein Steinmännchen, ich bin also sicher richtig – denke ich.
Inzwischen hat der Nebel zugenommen und ich sehe den Himmel über mir nicht mehr. Ich suche den Weg hinunter – eine Markierung, irgendetwas – aber auf der anderen Seite des Grates ist es einfach nur sehr steil und felsig. Nach ein paar Metern verliert sich alles im weißen Nichts und ich habe keine Ahnung, wie steil es darunter weitergeht. Etwas weiter östlich wird ein weiterer Weg angezeigt, interessanterweise der Einzige, der von meiner Papierkarte auch aufgeführt wird. Er ist aber sicher über 100 Meter weg von meinem aktuellen Standort und aufgrund der schlechten Sicht habe ich wenig Lust, auf dem Grat herumzuklettern.
Verloren im weißen Nichts
Weil ich oben auf dem Grat noch Netz habe, rufe ich im Refuge Fourcat an, und erkläre meine Situation. Ich sage auch, dass ich hier oben biwakieren werde, wenn ich den Weg nicht finde, da der Nebel recht dicht ist, und ich nichts sehen kann. Der Wirt, Guillaume, fragt mich nach dem Steinmännchen und sagt dann, dass der Weg direkt dahinter nach rechts abzweigt. Ich weiß, dass ich dort kein Netz mehr habe, wir vereinbaren also, dass ich mich wieder melde, sollte ich zurück zum Grat kommen, um zu biwakieren.
Ich mache mich vorsichtig an den Abstieg. Da es über dem Nebel angefangen hat zu donnern und zu blitzen ist mir inzwischen klar, dass ich nicht auf dem Grat bleiben kann. Der Fels ist locker, es ist keine angenehme Kletterei, denn einzelne Griffe beginnen sich plötzlich zu lösen und brechen weg. Zudem ist von dem Nebel alles etwas feucht, und dadurch rutschig.
Ich bleibe hochkonzentriert, überprüfe jeden Tritt und Griff und bewege mich ruhig und langsam. Als ich eine Nische im Fels erreiche, in der ich sitzen kann, mache ich eine kurze Pause. Jetzt fängt es an zu regnen und ab hier ist klar, dass ich nicht weiterklettern kann, denn der nasse Fels, der in das weiße Loch unter mir führt, ist unüberwindbar.
Ich ziehe mich also schnell wärmer an, soweit das in dem sehr kleinen Eck des Felsen geht, und packe mich in den Biwaksack. Die Metallgegenstände deponiere ich so weit von mir entfernt wie möglich – weit ist das nicht – und lege meinen Rucksack darauf. Als es auch noch beginnt zu hageln und von oben kleine Steine herunterfallen, setze ich meinen Helm auf und entschließe, einen Notruf abzusetzen. Ich nehme also mein kleines Garmin InReach Gerät in die Hand, hebe die Klappe auf und drücke SOS. Keine zwei Minuten später bekomme ich eine SMS-Antwort auf das Gerät, dass mein Notruf eingegangen ist, und dass man die lokale Bergwacht informiert. Dann sitze ich einfach da, in dem Biwaksack, und höre dem Trommeln auf meinem Helm zu.
Nach dem Notruf
Als es nachlässt wage ich einen Blick nach draußen. Der Nebel ist weg. „Ich kann sehen!“ sage ich laut, und fühle mich wie geheilt. Keine zehn Meter unterhalb beginnt ein Schneefeld, das flach ausläuft. Ich sehe sogar das Refuge Fourcat, das auf der anderen Seite des Sees auf einer Anhöhe thront. „Ich muss da runter, das muss gehen!“, sage ich zu mir selbst, und lasse den Rucksack stehen. Ich beginne weiter hinunter zu klettern, es ist so nah! Aber bald wird deutlich, dass es zu gefährlich ist, zumal ich nicht weiß, ob man mich, wenn ich falle, hier finden kann. Die Aussicht, die Nacht in der Wand zu verbringen, in der es immer rutschiger wird, ist aber ebenfalls wenig attraktiv.
Und so treffe ich wieder eine Entscheidung: Weil die Sicht jetzt viel besser ist, will ich zum Grat zurückklettern und den anderen Weg finden, der mir auf der Karte angezeigt wurde. Ich präge mir das Gelände um mich herum gut ein, falls der Nebel wiederkommt. Dann stelle ich noch meinen Rucksack so hin, dass man ihn mit seinem grell blauen Regenüberzug mit einem Fernglas von der Hütte aus sehen kann, damit ich ihn morgen hier holen kann – denke ich.
Die Kletterei zum Grat zurück ist sehr unangenehm. Ich habe nur mein Handy, den Akku mit Taschenlampe und das Garmin InReach Gerät dabei. Oben angekommen rufe ich wieder auf der Hütte an. Ein Mann namens Pascal hebt ab und sagt, dass Guillaume unterwegs ist zu mir. Ich kauere auf dem Grat, es ist inzwischen ziemlich kalt und ich bekomme die ersten Krämpfe in den Unterarmen und Beinen.
Der Nebel kommt und geht, die Sicht ist schlecht und das Gewitter hat zwar nachgelassen, aber einzelne Blitze lassen mich weiterhin kauernd verharren, obwohl ich das Bedürfnis habe, mich zu bewegen. Ich bin mir sicher, dass in diesem Wetter kein Helikopter fliegen kann und weil Guillaume unterwegs ist, stoppe ich den Notruf.
Ab jetzt rufe ich alle paar Minuten auf der Hütte an. Pascal, der selbst eigentlich Gast auf der Hütte ist, kommuniziert von dort aus mit Guillaume über Funk und ich gebe meine GPS Koordinaten durch. Ich gebe Lichtzeichen und rufe, sehe selbst aber keine und höre nichts.
Weil ich Netz habe, empfange ich jetzt auch WhatsApp und SMS. Eine Nachricht von meiner Schwester: „Ana, ruf an!“. Mist, jetzt wird mir klar, dass der Notrufdienst vermutlich meine Familie informiert hat. Es tut mir schon jetzt unendlich leid und ich sehe sie vor mir, wie sie völlig besorgt in der Küche sitzen. Ich rufe an und gebe eine kurze Entwarnung, sage, dass Hilfe unterwegs ist. Ich bemühe mich, dass man nicht hört wie sehr meine Zähne klappern.
Ab jetzt wird es rapide dunkel und immer kälter. Die Krämpfe sind schmerzhaft und nehmen zu. Als ich zwischendrin mal versuche mich zu bewegen, merke ich wie steif mein ganzer Körper geworden ist und wie schwer es ist, mich kontrolliert zu bewegen.
Endlich sehe ich Guillaumes Licht und er sieht mich. Wir rufen und hören einander endlich. Der Wind muss unsere Rufe vorher verweht haben. Ich versuche mich langsam und mit kleinen Bewegungen zu mobilisieren, denn der Abstieg liegt ja noch vor mir. Als Guillaume unterhalb von mir ankommt, klettere ich ihm entgegen. Es sind nur ein paar Meter, aber die sind recht schwer. Wir umarmen uns, er sagt „Mann, das ist gut, dich zu sehen.“ Mir geht es genauso. Guillaume hat seinen Hund Django dabei, der aufgeregt vorausläuft. Wir klettern langsam und vorsichtig, aber es geht gut. Ich habe dank Adrenalin jetzt wieder genug Kraft.
„Gut, dich zu sehen“
Um halb 12 Uhr nachts sind wir auf der Hütte. Ein paar Gäste sind wach geblieben und klatschen, als wir reinkommen. Puh. Wie im Theater fällt hier mit diesem Klatschen plötzlich eine große Spannung von mir ab. Wir bedanken uns, werden umsorgt und ich bekomme trockene Sachen. Wir telefonieren noch mit der PGHM, der Bergwacht. Guillaume erzählt mir, dass sie bei dem Wetter nicht fliegen konnten, weshalb er dann angeboten hat, mich zu suchen. Ich bin unendlich dankbar für seinen Mut und seine Ruhe und seine Freundlichkeit. Er hat für mich ein großes Risiko auf sich genommen.
Die Gäste gehen schlafen, Guillaume und ich sind beide noch zu aufgeregt, um müde zu sein. Wir sitzen also noch in der Küche, essen Suppe und trinken ein Bier.
Am nächsten Tag wollen wir meinen Rucksack holen, aber es ist viel zu gefährlich dort hinaufzuklettern. Also wird er tatsächlich von der Bergwacht mit dem Heli geholt, sie „waren gerade in der Gegend“.
Die nächsten Tage bleibe ich auf der Hütte und helfe aus. Ich brauche eine ganze Weile, um den Stress aus meinem Körper wieder herauszubekommen. Es sind wunderbare Tage voller Schlaf, schönen Gesprächen, Yoga und sinnvoller Arbeit für glückliche Bergsteiger. Ein Traum. Als ich schließlich entscheide weiterzugehen, fällt mir der Abschied schwer. Aber ich bin nicht nur um die Erfahrung am Grat reicher geworden, sondern hatte auch genug Zeit, alles was passiert ist, wirklich zu verarbeiten und einzuordnen.
Jetzt bin ich bereit für die vielen weiteren Erlebnisse, die noch vor mir liegen.
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