Marie Luise Kaschnitz: „Zum Parnaß“
Wir geben euch wieder ein Berggedicht mit in die Woche. Diesmal: „Zum Parnaß“ von der deutschen Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz (1901-1974).
„So hebt es an. Mit einem hellen Strahlen,
Mit einem Widerschein der Sommerfeuer
Im niedern Dickicht. Rote Blätter glühen
Und Thymian und Heidesträucher blühen
In tiefer Mulde unterm reinen Blau.
Beliebt auf Bergwelten
Und dann die Schlucht. Von schroffen Felsenwänden
Dem Lichte abgesperrt und nichts als Öde,
Geröll und Stein. Ein fremder Schritt begleitet
Und schreckt den Wanderer, der einsam reitet;
Auch beliebt
Ein kalter Atem weht vom leeren Fluß – –
Jenseits des Passes aber sind die lieblich
Besonnten Hänge voll von goldnen Reben
Und Überfluß der Gärten und inmitten
Ein trunkener Gesang und Tanz von Schritten
Und rote Tierhaut schon vom Weine prall.
Und wieder Kälte. Winter. Eisge Winde
Den hochgetürmten Felsenort durchstreichend.
Die Schäfer kehren von des Berges Spitze
In rot und blauem Rock und Lammfellmütze
Und Frauen wandern spinnend in Geläut.
Dort irrt der Blick hinauf zum steilen Hange
Ins Fichtendunkel. Von den Felsenhöhlen
Herstürzen Winde, die wie Stimmen tönen,
Und Wolkenfetzen treiben sich wie Schemen
In wirrem Zug am Vorgebirge hin.
Doch ist noch Sommer. An des Weges Kehre
Ist schon das Grauen vergessen. Falter schweben,
Der Abend glüht. Zur hohen Straße drängen
Olivenwälder sich an sachten Hängen,
Gleich einer grünen Welle aus dem Tal.
Und wie das Licht der Tiefe sacht entgleitet,
Da steigen aus den Wäldern dichte Schwärme
Von Vögeln, die sich aus dem Schatten heben
Und zu dem grellen Glanz der Felsen streben
Und kreisen über dem kastalischen Quell.“
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Marie Luise Kaschnitz
Marie Luise Kaschnitz wurde 1901 in Karlsruhe geboren und wuchs in weiterer Folge in Potsdam und Berlin auf. Nach ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin in Weimar arbeitete sie zunächst in einem Verlag in München und schließlich in einem Antiquariat in Rom. Es folgten mehrere Reisen nach Frankreich, Italien und Griechenland.
Kaschnitz pendelte fortan zwischen Rom, Königsberg, Marburg, Frankfurt am Main und Bollschweil bei Freiburg. 1955 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis verliehen, 1974 verstarb die Schriftstellerin in Rom.