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Tief unten im Grand Canyon

Aktuelles

3 Min.

26.04.2019

Foto: Ana Zirner

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Ana Zirner folgt zurzeit dem Colorado River – 2.330 km, von seinem Ursprung in den Rocky Mountains bis an den Golf von Kalifornien in Mexiko. Per Boot tief in den Grand Canyon vorgedrungen, lässt sie sich in den Sog des Flusses ziehen und den Alltag ganz weit zurück.

Ich weiß nicht welcher Wochentag heute ist, geschweige denn das Datum. Die anderswo messbare Zeit kann ich nicht mehr spüren. Es ist eine ganze Weile her, seit ich meine Multifunktionsuhr mit ihren vergehenden Sekunden, blinkenden Sensoren und messenden Parametern abgelegt habe. Hier, tief im Grand Canyon, lebe ich in „River time“.

Die Tage hier tragen höchstens die Namen von Stromschnellen. Heute ist „Lava day“, der Tag also an dem wir durch die legendären Lava Falls rudern werden. Die Dories, diese eleganten Holzboote mit denen wir hier unterwegs sind, gleiten am liebsten bei niedrigem Wasserstand über den Fluss. Wir werden also warten, bis die Wassermassen, die regelmäßig vom Glen Canyon Damm aus in den Grand Canyon gespült werden, an uns vorbeigeflossen sind. Mag dieses massive Symbol der menschlichen Ingenieurskunst auch meilenweit weg sein, der Damm bestimmt hier die Gezeiten, wie ein Zeigefinger aus der Zivilisation.


Jenseits der Zivilisation

Gestern Nacht bin ich aufgewacht, als sich der feine Halbmond in den schmalen Spalt von sichtbarem Himmel über mir geschoben hat. Seine Sichel scheint die Kurve im Canyon zu spiegeln, in der die Dory auf der ich heute schlafe, sanft auf dem Wasser schaukelt.

Schon seit geraumer Zeit schlafe ich lieber unter freiem Himmel. Wände und Dächer empfinde ich oft sogar als Beschränkung meiner nächtlichen Erholung. Aber diese Wände, die hier auf beiden Seiten des Flusses hoch hinauf reichen, wirken wie ein offenes Dach, das ich schätzen gelernt habe. Sie bilden eine willkommene Grenze zu der bunten Welt dort oben, einen Schutz vor dem lärmenden Trubel, eine Abdichtung vor der kühlen Zeitrechnung, die ich beginne zu vergessen.

Die klare Geometrie aus horizontalen und vertikalen Linien, Rissen, Höhlen und Terrassen im Fels um mich herum lässt mich ruhig werden. Ich beginne zu ahnen, welch unnennbares Wissen sich über Millionen von Jahren in ihnen angereichert haben muss. Es versteckt sich in den „great unconformities“, diesen magischen Leerstellen zwischen dem uralten Gestein, und lagert in unzähligen Schichten aus Sedimenten, wie in einem für alle Zeiten verschlossenen Buch. Was mir noch vor einigen Wochen einfach nur Braun erschien, entfaltet sich mit der Zeit zu einem Farbspektrum an undefinierbaren Schattierungen, irgendwo zwischen rot, orange, gelb, pink, grau, und schwarz.


Spuren aus Millionen Jahren

Die Gesichter meiner Mitreisenden haben sich verändert. Als ich ihnen vor ein paar Wochen in dem sterilen Konferenzraum des Hotels in Flagstaff begegnet bin, wirkten sie voll Vorfreude, aber doch angespannt. Sie haben angefangen loszulassen. Die Bärte der Männer wachsen, die Frauen überlassen die Gestaltung ihrer Frisur dem Wind und niemand stört sich mehr am Sand zwischen den Zähnen und gelegentlich auch auf dem Teller.

Im schmalen Canyon erweitert sich der innere Horizont und die Wahrnehmung vertieft sich. Ungerührt von all dem fließt unaufhörlich der Colorado River um uns herum. Für indigene Völker ist dieser Fluss ein weibliches Wesen, das „Ewige Leben“.

In meinem kleinen Packraft bleibe ich direkt hinter den Dories und vor den drei Rafts, die all das Gepäck und die Ausrüstung transportieren. Aber nicht nur das – sie sammeln mich dankenswerterweise auch ein, wenn mich wieder mal eine Stromschnelle ins Wasser geworfen hat. Dank der großartigen Anleitung meiner Kollegen und mit viel Zeit, um die Oberfläche des Wassers zu studieren und die Eigenschaften der Strömungen hier kennenzulernen, lerne ich täglich dazu.


Im Sog des Flusses

Der Moment, wenn die Strömung kurz vor einer Stromschnelle an Kraft gewinnt und ich auf der Zunge mitten hinein gezogen werde ist wie eine zerdehnte Sekunde, in der ich all meine Klarheit sammle. Denn dann muss alles stimmen. Je nach Situation gilt es nun mich in die Welle zu lehnen, als erwarte ich eine Umarmung, mein Paddel leicht aber entschieden an ihrer glänzenden Oberfläche zu fächern, oder auch das Paddel tief in der Welle zu versenken als wollte ich sie zerteilen. In diesem Bruchteil einer Sekunde fühle ich eine unbeschreiblich starke Verbindung zu diesem Fluss, die mich tief berührt und die lange in mir nachklingt.

Ich denke zurück an meine erste Begegnung mit dem Colorado River. Vor über 50 Tagen habe ich in den Rocky Mountains zum ersten Mal dieses leise Flüstern gehört, das von einer dicken Schneedecke gedämpft war. Sanft auftretend, als wollte ich vermeiden ihn zu wecken, bin ich dem leisen Atem gefolgt bis ich an einem Loch im Eis seinen Puls durch meine Finger fließen lassen konnte.

Auf der Strecke bis hierher hat dieser Fluss viel erlebt. Er hatte schwierige und wilde Phasen, hat träge fließend Stauseen gefüllt und ist zeitweise völlig verschwunden. Und doch liegt seine schwierigste Lebensphase noch vor ihm. Der Colorado River ist Spielplatz und Arbeitstier, wird respektiert und ausgebeutet, spendet Leben und ist schwer umkämpft. Stetig bahnt er sich seinen Weg durch Zivilisation und Wildnis. Er stürzt, wirbelt, windet sich und plätschert, er brüllt, plappert und flüstert. Aber niemals steht er still, nie schweigt er – noch nicht.

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