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Pilgern

Zu Fuß von Wien nach Mariazell

• 25. Juli 2017
5 Min. Lesezeit

Elisabeth „Lilli“ Prattes – Fotoredakteurin bei Bergwelten – hat den Bürosessel gegen Bergschuhe getauscht und sich von Wien aus ins steirische Mariazell, den berühmtesten Wallfahrtsort Österreichs, aufgemacht. 111 Kilometer, die sie so schnell nicht vergessen wird.

Pilgern Mariazell
Foto: Michael Gruber
Bergschuhe statt Büro: Unterwegs von Wien nach Mariazell
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Tag 1: Wien – Kaumberg (42 km)

5h45: Der Wecker klingelt. Die Nacht war kurz. Es gibt eine große Portion Haferflocken mit Bananen zum Frühstück. Um diese Zeit hält sich mein Appetit in Grenzen. Aber ich weiß, dass ich heute viel Energie brauchen werde. In Kürze werde ich zu meiner ersten 4-Tages-Wanderung aufbrechen. Auf 111 km geht es zu Fuß von Wien nach Mariazell. Ich bin Fotoredakteurin bei Bergwelten. Normalerweise scheuche ich sportliche Fotografen durch die Berge, während ich gemütlich die Schönheit der Natur am Bildschirm konsumiere. Heute breche ich selbst auf.

7h40: Auf der ersten Etappe unterstützt mich ein Freund. Die Stadt glitzert im warmen Morgenlicht. Einige nutzen den Feiertag für eine Wanderung. Man grüßt sich freundlich und duzt sich – ein Zeichen, dass wir die Stadt hinter uns gelassen haben. Etappenziel für heute: Das 40 Kilometer entfernte Kaumberg. So weit bin ich an einem Tag noch nie gegangen. Ich will die längste Etappe möglichst schnell hinter mich bringen, solang ich noch frisch bin.

Die ersten Kilometer am Morgen: Unterwegs im Wienerwald bei Heiligenkreuz

10h55: Früher als erwartet treffen wir in Heiligenkreuz ein. Die Blasmusik spielt, es findet eine Segnung vor dem Stift statt. Für viele Wanderer stellt der Weg nicht nur eine sportliche Herausforderung dar, sondern hat auch eine religiöse Bedeutung.

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12h15: Die Straßenabschnitte machen mir langsam etwas zu schaffen. Die Sonne steht jetzt hoch und der Rucksack hängt sich an. Um abzukürzen, schlage ich in Maria Raisenmarkt vor, den steileren Weg zu nehmen, der direkter wirkt. Erst viel zu spät erkennen wir, dass wir die Variante über den Peilstein gewählt, und somit einiges an unnötigen Höhenmetern hinter uns gebracht haben. Wir müssen auf der Straße wieder zurück ins Tal. In Hafnerberg angekommen hat das Thermometer bereits die 27 Grad Marke überschritten.

18h00: Seit Klein-Mariazell bin ich alleine unterwegs, auch andere Wanderer sind mir nicht mehr begegnet.  Nach einem idyllischen Feldweg mit blühenden Wiesen und einem schönen Abschnitt im Wald: Wieder Asphalt. Meine Energiereserven sind mittlerweile weitgehend erschöpft. Auf einer Weide endet der Weg. Ich versuche, mit Google Maps am Handy zu navigieren. Ein Gefühl von Einsamkeit macht sich breit. Seit Mittag hab ich bereits Muskelkater. Mein Rücken schmerzt vom Rucksack. Plötzlich taucht hinter mir jemand auf. Auf der nächsten Lichtung holt mich eine junge, blonde Frau ein. Sie ist genauso erleichtert mich zu sehen wie ich sie und kommt schnell zum Punkt: „Schon komisch wie schnell einem menschliche Gesellschaft fehlen kann.“ Gemeinsam verirren wir uns auf den letzten Kilometern nach Kaumberg. Für einige Zeit folgen wir einem Bach, kraxeln erschöpft durch das Gehölz. Auf der Straße angekommen, trennen sich unsere Wege.

20h15: Ich bin glücklich mein Tagesziel erreicht zu haben. Und erschöpft und hungrig. Abwarten wie sich mein Körper morgen früh anfühlt. Lust aufzugeben habe ich keine. Mehrmals hab ich mir heute gedacht, „ich kann nicht mehr“. Aber auf allen Irrwegen hab ich schließlich doch immer wieder einen Weg gefunden weiterzugehen. Vorsatz für morgen: Am rechten Weg bleiben!

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Tag 2: Kaumberg – Rohr im Gebirge (28 km)

7h15: Ich erwache zum Geräusch von starkem Regen. Vorsichtig hebe ich ein Bein nach dem anderen aus dem Bett. Ich habe kaum geschlafen. Zu übermüdet um zur Ruhe zu kommen. Meine Beine sind schwer wie Blei. Der Bus zurück nach Wien würde um 8h00 abfahren.

8h15: Nach dem Frühstück sagt mir die Wirtin, ich solle doch eine Abkürzung nehmen. Anstatt über die Araburg durch das Labachtal. 45 Minuten würde ich mir auf alle Fälle ersparen auf diese Weise. Und den steilen Anstieg zur Burg, vor dem sich meine muskelkatergeplagten Beine fürchten. ‚Gut!’ denke ich mir, nachdem eine Einheimische auch noch betont, man könne sich da gar nicht verlaufen. Bloß nicht dieselben Fehler wie gestern machen.

9h15: Nach den Worten der Wirtin müsste ich mittlerweile beim Veiglkogel sein. Stattdessen musste ich bereits einmal am Ende eines Weges wieder umkehren und sehe auf meinem Handy, dass ich seit gut 30 Minuten über Serpentinen in die falsche Richtung gehe.

11h15: Mein Handy piepst. „Wo ist das tägliche Photo-Update, Schwesterherz?“, lese ich. Ich habe Schmerzen, ich mag nicht mehr. Ich bin müde. Der Weg ist steil. Es ist kalt und sehr windig auf dem Kamm. Ich hab seit dem Losgehen niemanden mehr gesehen und frage mich, warum ich mir das antue. Ich wollte gerne vier Tage alleine gehen. Abenteuer, Freiheit, Auszeit von der Stadt, zurück zur Natur. Bullshit!

Ich antworte: „Bin kurz vorm aufgeben.“ Tröstende Worte kommen zurück. „Mach doch eine Pause.“

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Die Wahrheit ist: Ich kann jetzt gar nicht aufgeben. Ich bin mitten im Wald. Keine Straße auf die ich mich setzen und aufs Abholen warten könnte. Ich kämpfe mich teilweise auf allen Vieren über den steilen Waldweg den Berg hinauf. Immer wenn ich denk, ‚jetzt bin ich gleich da!’ geht’s kurz hinunter, und dann umso steiler wieder bergauf.

Pfad zwischen Kieneck und Unterberg in Niederösterreich

16h00: Nach dem Abstieg vom Unterberg Schutzhaus holen mich zwei junge Vorarlberger ein. Sie sind noch recht flott unterwegs. Der Rest des Tages verläuft leicht. Man tauscht sich aus über die Erfahrungen beim Gehen. Gibt sich Tipps zur Route. Bespricht Frustrationen, Höhenmeter, die Beschaffenheit des Weges, die Menschen die einem unterwegs begegnen. Immer wieder sieht man dieselben Gesichter. Gemeinsam geht es sich leichter. Ins Gespräch vertieft scheinen die Füße von alleine zu laufen.

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Foto: Dieter Vogel
Im Tal Richtung Rohr im Gebirge

Tag 3: Rohr im Gebirge – Gscheid (22 km)

7h30: Heute früh ist mein Vater, seines Zeichens obersteirischer Bergfex, angereist, um mich an den beiden letzten Tagen zu begleiten. Beim Aufbruch ist es kalt und meine Gelenke noch steif. Die ersten Kilometer tripple ich in Mäuseschritten. Bei der Kalten Kuchl holen wir bekannte Gesichter vom Vortag ein. Ab jetzt sind wir zu sechst unterwegs.

12h00: Wir kommen gut voran. Gehen meist in Zweiergruppen. Die Stimmung ist gelöst. Man teilt die Jause und tauscht Anekdoten aus. Gemeinsames Weitwandern ist auch gut für die Vater-Tochter-Beziehung. Zum ersten Mal seit ich mich erinnern kann verbringe ich 48 komplett stressfreie Stunden mit meinem Vater. Am Vortag hat er mir bereits eine Nachricht geschickt. Wie stolz er auf mich sei, dass ich das durchziehe. Auch wenn es körperlich grad nicht einfach ist. Ich bin einfach dankbar dafür, dass er an meiner Seite geht. Und sich an mein Tempo anpasst.

Immer wieder lohnt sich ein kurzer Halt, um den Ausblick zu genießen

Tag 4: Gscheid – Mariazell (19 km)

8h30: Der Morgen ist von Zuversicht geprägt, die Reise gut zu Ende zu bringen. Das Ziel, Mariazell, ist zum Greifen nah. Abmarsch vom Gscheid. (Das Gasthaus steht zum Verkauf. Wir träumen davon es gemeinsam zu übernehmen.) Plaudernd durchwandern wir blühende Wiesen, saftig grüne Wälder, folgen glasklaren Bächen. Die Aussicht auf eine Stärkung bei der berühmten Wuchtelwirtin nach zwei Stunden Wanderung lässt uns zügig vorankommen.

„Luxus-Wuchtel“ bei der Wuchtelwirtin im Walstertal

14h30: Auf den letzten Metern vor Mariazell fühlt es sich so an, als ob mein rechter Oberschenkel gezerrt wäre. Das Gehen wird schwierig. Zusätzlich macht sich ein brennender Ausschlag über dem linken Knöchel bemerkbar. Ich bin frustriert und wütend. Die Gruppe rückt auf den letzten Metern nicht von meiner Seite. Gemeinsam schaffen wir den Abstieg zur Basilika.

Vor der Basilika angekommen, macht sich unglaublicher Stolz breit. So muss sich wohl ein Marathonläufer beim Anblick des Zieleinlaufs fühlen. Ich erinnere mich daran, einen Wunsch für mich zu formulieren, während ich durch das Tor in die Basilika humple.

Kurz vorm Ziel: Blick auf den Wallfahrtsort Mariazell

Ist in Mariazell ein Wunder geschehen?

Die Lilli am Anfang wollte alleine gehen. Sich als Einzelkämpferin beweisen. Hat nach Ruhe, Abstand und Meditation gesucht. Die Lilli am Ende ist geläutert. Schätzt die Menschen in ihrem Leben. Muss nicht alles allein schaffen. Und will weiter in die Natur. Viel öfter die Möglichkeit nutzen raus aus der Stadt zu kommen. Aktiver sein. Mehr unternehmen.

Der Wiener Wallfahrerweg nach Mariazell im Detail

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