Das Südtiroler Bergsteigerdorf Lungiarü
Am Fuße des Peitlerkofels, des nördlichsten Eckpfeilers der Dolomiten, versteckt sich am Ende eines Sackgassen-Tals das Bergsteigerdorf Lungiarü. Es hat sich seine ladinische Bergbauernkultur und seine Ruhe auf wunderbare Weise bewahrt.
Sissi Pärsch für das Bergweltenmagazin Februar/März 2019
Am schönsten ist es, wenn es nicht mehr weitergeht. Zumindest ist dies definitiv bei Alpentälern der Fall – bei irrsinnig schönen Südtiroler Alpentälern im Besonderen. Ein Tal, das als Sackgasse endet, das keinen asphaltierten Übergang über die Berge bietet, das bleibt herrlich verschont von Schnell- und Durchreisenden – verschont von Motorradfahrern, die sich genuss- und geräuschvoll in die Passstraße legen, und von denen, die sich nur für ein Foto aus dem Autositz schälen.
Wo kein Durchkommen ist, da hat die Ruhe ihre Chance. Und in einem abgeschiedenen Seitenarm des Südtiroler Gadertals hat sie diese Chance genutzt. Nach ein paar Tagen in Lungiarü breitet sich in jedem Besucher eine wohlige Stille aus.
Der amtliche Name des Ortes am Rand des Naturparks Puez-Geisler lautet Campill, doch die Einwohner bevorzugen die ladinische Bezeichnung. Viel Aufmerksamkeit sind sie hier in Lungiarü nicht gewohnt. Erst 1969 wurde das Talende durch eine Straße erschlossen. Doch der Ort blieb ein Geheimtipp unter ruhe- und natursuchenden Wanderern, Bergsteigern und Skitourengehern.
Paradoxerweise beschert der sanfte Tourismus Lungiarü jetzt größere Beachtung: Als erster Ort in den Dolomiten erhielt er 2018 die Alpenvereinsauszeichnung „Bergsteigerdorf“. Diese Prämierung ist Plätzen vorbehalten, die sich einem nachhaltigen Umgang mit Natur und Kultur verschrieben haben.
Einen „hervorragenden und stimmigen Gesamteindruck“ hinterlasse das Dorf, schreibt der Südtiroler Alpenverein in seiner Beurteilung. Die Worte, die uns beim Anstieg zum 2.865 Meter hohen Peitlerkofel in den Sinn kommen, fallen deutlich emotionaler aus. Wie ein steinerner Spross schießt der Hausberg von Lungiarü aus der lieblichen Almwiesenlandschaft.
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Das saftige Grün ist gesprenkelt mit knusprig braun gebrannten Scheunen und wirkt wie ein Nährboden für die Zacken und Zinnen, die Spitzen und Pfeiler, die die Dolomiten zu einer solch besonderen Kulisse machen. Am Kreuzkofeljoch fächern sie sich rundum vor uns auf: die Geislergruppe, die Puez-Gipfel, die Fanes-Felsen.
Dieses Südtirol, denkt man sich, während man staunend und schwitzend aufsteigt, es kann nicht anders, als schön zu sein. Mancherorts mag der Segen auch zum Fluch werden. Mancherorts sind die Ufer der Bergseen von Scharen besetzt, die Gipfelkreuze umzingelt, und die Hütten quellen über.
Wir hingegen dösen nach der ausgedehnten Tour von der Schlüterhütte über den Kamm ungestört in den Holzliegen auf der großen Wiese vor der kleinen Ütia Ciampcios. Linker Hand liegen Heiligkreuzkofel, Neuner und Zehner, rechter Hand die Geisler-Dreitausender Furchetta und Sass Rigais, direkt vor uns die furchigen, karstigen Nordwände des Puez-Massivs. Direkt dahinter liegt schon das Grödner Joch.
Nur für drei Dinge wenden wir unseren Blick von diesem steinigen Schauspiel ab: für die korpulente Gunigunde, das genüsslich grunzende Hütten-Hängebauchschwein; für das bildhübsche Geschwister-Wirtspaar Rafael und Noemi Clara – und für deren hausgemachtes Käse-Speck-Brettl. Rafael stellt es zwischen uns auf die Wiese, lässt sich im Schneidersitz nieder und gibt geduldig Auskunft zu den Kletterrouten und Steigen in den Flanken gegenüber.
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Zurück in die Berge
Es gab Jahre, da war er weg aus seiner Heimat, führte als Geometer seine eigene Firma, fuhr bis zu 50.000 Kilometer im Jahr. Dann zog er einen Schlussstrich: Er gehöre nicht auf die Straße, sondern in die Berge. So baute Rafael gemeinsam mit seiner Schwester Noemi die alte Familienscheune zur Ütia Ciampcios aus.
Auch Noemi gab dafür ihren Job auf. Sie arbeitete als Grafikerin in Bozen; jetzt gestaltet sie die kleine Hütte, stellt die eigenen Säfte, Liköre und Marmeladen her, geht auf die Jagd und engagierte sich als „Vertreterin der Hütten und der jungen Generation“ in der Bergsteigerdorf-Arbeitsgruppe.
Später gesellt sich Dolorico Mischi zu uns. Unterhalb der Ütia liegt eine Almparzelle, die seit Jahrhunderten seiner Familie gehört. „Bald“, sagt er, „blühen die Kräuter, und es ist Zeit zu mähen.“ Auf dem Rückweg zeigt uns Dolorico seine Almwiese und die Scheune mit einem kleinen Verschlag an der Seite.
„Die Küche“, klärt er uns auf. „Früher haben wir hier heroben übernachtet. Tagsüber haben wir die Wiesen gemäht, abends im Verschlag über der Feuerschale gekocht und dann im Heu geschlafen. Bei den vielen Kräutern, die wir haben, ist das wie eine Gesundheitskur. Du schläfst sozusagen auf einem Bett aus Arnika.“
Wie die Geschwister Clara ist auch Dolorico ein Um- und Heimkehrer. Er hatte in Innsbruck Jus studiert und praktizierte über Jahre als Anwalt, aber Gefallen habe er an seiner Arbeit nicht gefunden. „Da habe ich mich gefragt, was mich denn glücklich machen würde.“
Die Antwort: „Ein wenig Bauer sein, mich ein wenig in der Gemeinde engagieren – und im Winter in Alta Badia Pistenbully fahren.“ Gedacht, getan. Heute ist er „nicht mehr Jurist, sondern glücklich“. Generell scheint es, als wäre dieses abgeschiedene ladinische Tal gut darin, die Dinge anders zu machen.
1978 wurde der Naturpark Puez-Geisler ausgerufen, und damit wurde jeglichen unschönen Entwicklungen automatisch ein Riegel vorgeschoben. Der Ort setzt sich aus einer Reihe von Viles, aus kleinen Weilern, zusammen. Die Siedlungen sind Verbunde mehrerer Familien. Besonders schön sind die Bauernhäuser selbst.
Dolorico kann jedes architektonische Detail erklären, winkt aber lachend ab: „Ich bin kein Experte. Wenn, dann sind wir alle im Tal Experten. Es ist einfach Teil unseres Lebens.“ Es dämmert bereits, als wir durch die Viles zurück ins Zentrum streifen.
Eine Katze bleibt hocherhobenen Hauptes mitten auf der Straße stehen. Sie muss sich keine Sorgen um den Autoverkehr machen. Für Tier, Natur und Mensch ist es einfach am besten, wenn es nicht mehr weitergeht – und ein Tal ein solch schönes Ende findet.