Lungiarü - Willkommen im ersten Bergsteigerdorf der Dolomiten
Foto: TVB San Vigilio und San Martin
von Christina Schwann
Kein Motorradverkehr, keine Autoschlange, die sich die Passstraße hochschlängelt, keine Seilbahnen und keine überfüllten Almen… am Dorfende ist einfach Schluss. Wer von dort die Puez- oder Peitlerkofelgruppe hinauf will, muss zu Fuß gehen. Christina Schwann hat Lungiarü, das erste Bergsteigerdorf in den Dolomiten, besucht.
Ein wenig versteckt in einem Seitental des Gadertals auf 1.400 m und direkt am Eingang zum Naturpark Puez-Geisler (seit 2009 Teil des Dolomiten UNESCO Welterbes) hat sich in Lungiarü, einer Fraktion der Gemeinde St. Martin in Thurn, nicht nur die ladinische Sprache über die Jahrhunderte gehalten, sondern auch die Bergbauernkultur mit ihren Traditionen und Bräuchen.
Besonders charakteristisch sind die Viles an den sonnigen Südhängen des Tales. Viele der alten Hofnahmen gehen auf das 13. und 14. Jahrhundert zurück und damals wie heute sind die Weiler Ausdruck des starken Zusammenhalts der Bevölkerung. Die Bauernhäuser stehen in einer ökonomischen Beziehung zueinander, nutzen Backofen und Brunnen gemeinschaftlich und teilen sich nicht selten auch die Nutzungsrechte an Grund und Boden. So konnte und kann der wertvolle Boden, den man mühsam dem Wald abgerungen hat, bestmöglich genutzt werden – damals vor allem für den Getreideanbau. Die Mühlen am Seresbach am südlichen Ende des Dorfes legen heute noch Zeugnis davon ab.
Auf der „Roda dles Viles“ – einer gemütlichen Rundwanderung – kann man die ladinischen Weiler besuchen. Alle zwei Jahre organisiert die Freiwillige Feuerwehr eine Art Dorffest, dann bekommt man in jedem Viles typische kulinarische Spezialitäten, alte bergbäuerliche Gegenstände werden präsentiert und ganz wichtig – die „Musi“ spielt auf. Immer wieder ein schöner Anlass für viele – vor allem italienische Gäste – nach Lungiarü zu kommen. Am 5. August 2018 war dieses Fest aber auch Anlass, Lungiarü offiziell in den Kreis der Bergsteigerdörfer aufzunehmen.
Stimmiger Gesamteindruck
„Wir sind durch das Val di Zoldo (Anm.: ab 6. Oktober 2018 auch offizielles Bergsteigerdorf) auf die Bergsteigerdörfer-Initiative aufmerksam geworden. Für uns war schnell klar, dass wir auf jeden Fall ein prädestiniertes Bergsteigerdorf sind,“ so Giovanni Costa und Christoph Alfreider der AVS-Ortsstelle St. Martin in Thurn. Man sprach beim Alpenverein Südtirol, AVS, vor, gründete eine Arbeitsgruppe und reiste 2017 zum internationalen Bergsteigerdörfer-Ausschuss nach Innsbruck, um sich offiziell zu bewerben. Von Erfolg gekrönt, erhielt Lungiarü folgende Antwort von den Alpenvereinen: „Lungiarü, ein bäuerlich geprägtes Bergdorf mit einer hochwertigen alpinen Natur- und Kulturlandschaft und mit einem hervorragend stimmigen Gesamteindruck.“
Strategischer Auftrag
Was aber erwartet sich Lungiarü nun vom Siegel „Bergsteigerdorf“? Mehr Gäste? „Nein, ganz im Gegenteil. Wir erwarten uns weniger Gäste, die dafür aber unsere Landschaft und unsere Art zu leben besonders schätzen und länger bleiben,“ fasst Christof Alfreider zusammen. Landesrat Richard Theiner, Ressort Raumentwicklung, Umwelt und Energie, der das Projekt auch von Seiten der Autonomen Provinz Bozen zu 1/3 finanziell unterstützt (den Rest teilen sich AVS und Gemeinde) legt noch nach: „In den Dolomiten sind wir vom Tourismus zum Teil überrannt worden. Das Bergsteigerdorf ist wie das UNESCO Welterbe ein Auftrag, die Massen strategisch zu lenken, um langfristig die Kultur- und Naturlandschaft und insbesondere die ladinischen Bräuche und Traditionen zu bewahren.“
Auch für den AVS ist dies ein Auftrag, denn heute geht es nicht mehr allein darum, Menschen in die Berge zu locken, sondern um die Vermittlung der Besonderheiten des alpinen Raums, seiner Schönheit und Wildheit, aber auch seiner Verletzlichkeit. Für ähnliche Werte steht der 1978 gegründete Naturpark Puez-Geisler, der mit seinen sanft gewellten Almwiesen, verkarsteten Hochflächen, den wilden Felszacken und dichten Nadelwäldern nicht nur Spielwiese und Fotomotiv ist, sondern vor allem Lebensraum zahlreicher Tier- und Pflanzenarten und zudem durch seine geologischen Besonderheiten ein einzigartiges „Geschichtsbuch der Erde“ darstellt.
Bewusstes Erleben
Im Herbst, wenn die Lärchenwiesen goldgelb leuchten, wird es ruhig in Lungiarü. Die beste Zeit für Wanderungen und auch noch einige Berg- und Klettertouren in der Peitlerkofelgruppe sowie der Puez- und Geislergruppe. Und im Winter, wenn alles unter einer weißen Schneedecke versinkt, die beiden Schutzhütten, die Puezhütte und die Schlüterhütte, geschlossen haben, fühlen sich Skitourengeher von den markanten Zacken und typischen, steilen Rinnen der Dolomiten magisch angezogen.
Jedem Gast, der Lungiarü in seiner Gesamtheit bewusst erlebt, wird vermutlich recht rasch klarwerden, dass der Ort nicht nur das erste Bergsteigerdorf in den Dolomiten ist, sondern wahrscheinlich auch das einzige bleiben wird. Die strengen Kriterien der Bergsteigerdörfer haben es zuvor nur Matsch im Vinschgau ermöglicht, Südtiroler Bergsteigerdorf zu werden. Und das ist auch gut so und zeugt einmal mehr von den außergewöhnlichen Qualitäten, die Lungiarü durch, oder vielmehr trotz seiner Lage in den Dolomiten, auszeichnet.
Fakten: Bergsteigerdorf Lungiarü, Südtirol
Ortschaften: Lungiarü (dt. Campill)
Seehöhe: 1.400 m
Gebirgsgruppe: Dolomiten: Puez- und Geislergruppe, Peitlerkofelgruppe
Wichtigste Gipfel: Piza de Pöz / Östliche Puezspitze (2.913 m), Piz Duleda (2.909 m), Pütia / Peitlerkofel (2.875 m), Picia Pütia / Kleiner Peitlerkofel (2.813 m), Capuziner (2.736 m), Col dala Soné (2.633 m), Piza de Antersasc (2.471 m), Crëp dales Dodesc / Zwölferkofel (2.384 m)
Schutzhütten:
Puezhütte
Schlüterhütte
Übernachten (Bergsteigerdorf-Partnerbetriebe):
Tipp:
Museum Ladin Ciastel de Tor: Museum zur Geschichte der mehr als 30.000 Dolomitenladiner, zur Sprache, Kultur und Sagenwelt.
Links:
Wander- und Bergtouren in Lungiarü
Roda dles Viles - Weilerrundweg
Lungiarü - Göma
Zwölferkofel / Crëp dales Dodesc
Skitouren in Lungiarü
Piza de Antersasc
Östliche Puezspitze / Piza de Pöz
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