Giro in echt: Mit E-Rennrädern durch Italien
Beim Giro-E können Amateure den Profi-Fahrern auf der legendären Italien-Rundfahrt mit elektrisch unterstützten Rennrädern nacheifern. Eine Bummelfahrt? Nicht wenn die Batterien begrenzt sind und der Team-Kapitän Massimiliano Lelli heißt. Autor und Hobby-Radler Martin Foszczynski hat sich der Herausforderung gestellt.
„Cazzo!“ Massimiliano Lelli ist sauer. Sehr sauer sogar.
„Dov'è Team?“ – Wo ist das Team?
Ich kann in etwa so viel Italienisch wie er Deutsch, aber was mir mein Kapitän gerade an den Kopf wirft, verstehe ich sehr wohl: Ich habe es verkackt!
Mein Puls rast. Wir stehen auf der flirrenden Autobahn irgendwo zwischen Grottaglie und Brindisi an Italiens Stiefelabsatz, während eine Radler-Gruppe nach der anderen an uns vorbeibraust. „Max“ hält ungeduldig Ausschau nach den restlichen vier Team-Mitgliedern, die ich habe abreißen lassen, weil ich mich verbissen auf sein Hinterrad konzentrierte, um den 40-km/h-Schnitt zu halten. Der größtmögliche Fehler!
Ins Zentrum der apulischen Hafenstadt Brindisi rollen wir schließlich wieder geschlossen ein – nur eine Stunde später werden hier Superstar Peter Sagan und Co. um den Sieg sprinten. Immerhin habe ich heute zwei wichtige Dinge über den Giro-E, an dem auch Hobby-Radler wie ich teilnehmen dürfen, gelernt. Erstens: Diese Italienrundfahrt ist kein echtes Rennen, auch wenn wir mit sündteuren E-Rennmaschinen und auf den verkürzten Original-Etappen des Giro d'Italia unterwegs sind. Was zählt ist die Team-Performance, nicht die des Einzelnen.
Und zweitens: Es geht trotzdem um etwas – zumindest, wenn man „Max“ Lelli als Kapitän ausgefasst hat. Am Frühstücks-Tisch der sanftmütigste Kerl auf Erden, verwandelt sich der 53jährige Ex-Profi im Sattel wieder zu einem Vollblut-Rennfahrer. Er hat immer noch Schenkel wie ein Bulle, eine dicke Ader schlängelt sich quer über seine Schläfe und erzählt von elf Tour-de-France-Teilnahmen und zwei Giro-Etappensiegen.
In Italien besitzt Max Legenden-Status – immer wieder hallt sein Name über unsere Köpfe hinweg, wenn wir durch die verwinkelten Straßen kleiner Ortschaften rollen. Ein bisschen schwillt dabei auch meine Brust an, steckt sie doch im ENIT-Trikot des italienischen Tourismusbüros, was sich beinahe anfühlt, als startete man für das italienische Nationalteam. Max führt unsere Truppe an und trägt seit Tagen das violette Trikot des Gesamtführenden – eine Wertung, die sich beim Giro-E aus der Mannschaftsleistung bei täglichen „Challenges“ sowie den Ziel-Sprints der Mannschaftskapitäne zusammensetzt. Und dieses Trikot will er um jeden Preis bis zum Ende der Rundfahrt in Mailand verteidigen.
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Im falschen Film
Am zweiten Tag ist der Ablauf schon ein bisschen Routine – und doch fühlt man sich wie im falschen Film. Der Giro-E ist mehr echter Giro, als ich es mir jemals erträumt hätte. Der Team-Mechaniker baut im abgesperrten Starter-Bereich eilig die Akkus ein, unsere Betreuer heften uns die Startnummern ans Trikot und befüllen die Trinkflaschen mit Magnesium. Auf einem der Aluminiumstehtische der Espressobar liegt immer ein frischer Stapel der Gazetta dello Sport – sogar Italiens lachsfarbene Sportbibel berichtet neben seitenlangen Specials zum Hauptbewerb vom Giro-E.
Wie bei den Pros werden Teams und Fahrer vor zahlreichen Schaulustigen auf einer Bühne präsentiert. Das Abspielen des Team-Songs beim „Einzug“ darf ebenso wenig fehlen, wie die Unterschrift im Rennbuch. Max hat sich einen Italo-Disco-Hit der italienischen Schlager-Sängerin Raffaella Carrà ausgesucht, zu dem wir möglichst euphorisch auf der Bühne herumhopsen sollen. Die schwarz gekleideten Athleten des Team Toyota hingegen ziehen – ganz „bad guys“ – zu AC/DC‘s „Highway to Hell“ ein.
Insgesamt treten beim Giro-E sieben, von Unternehmen und Organisationen gesponserte Teams zu je sechs Fahrern an. Für die Zuseher ist das durchaus ein Spektakel: Sie bekommen neben bildschönen Rennmaschinen mit modernster E-Technologie auch einige landesweit bekannte Influencer und so manche ehemalige Sport-Größe zu sehen, die sich für die ein oder andere Etappe an der authentischen Giro-Erfahrung versucht.
Unter Strom
Endlich geht es los. Am Start hat sich ein Konvoi aus Begleitwägen und Polizeimotorädern in Stellung gebracht. Der rockige Renn-Fotograf sitzt auf dem Sozius, um einmal mehr seinen waghalsigen Rodeo-Ritt durchs Fahrerfeld zu vollziehen. Ganz vorne lugt der Renndirektor aus der Dachluke eines roten Fiat, den Kopf in ein windsicheres Stirnband gesteckt. Dieci, nove, otto….
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Während am Vortag eine kurze Speed-Etappe auf dem Programm stand, heißt es heute die Kräfte auf 97 hügeligen Kilometern entlang der Adria-Küste nach Vieste gut einzuteilen. Doch es geht sofort zur Sache – schon nach wenigen Minuten schrauben wir uns den Monte Sant‘Angelo von Meeresniveau auf 800 Meter hoch. Just auf diesem Anstieg ist die erste „Challenge“ angesetzt – bis oben sollen wir eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 23 km/h halten.
Dieses Mal erwischt es meine tschechische Kollegin Michaela – ihre Akku-Unterstützung streikt plötzlich. Ich höre sie hinter mir nach Luft japsen, während Max sie von der Seite unerbittlich anbrüllt: „Dai, dai Michaela!“. Mit letzter Kraft rettet sie sich über die Kuppe und uns wertvolle Punkte für die Mannschafts-Wertung. E-Rennräder sind weniger verlässlich, als erhofft. Und man muss technisch sauber fahren, denn eine zu hohe Trittfrequenz läuft gerne mal ins Leere. Auf der höchsten von fünf Stufen reicht ein Akku bergauf nur für wenige Kilometer. Beim Giro-E sind pro Etappe aber maximal zwei Wechsel erlaubt – da heißt es den Energie-Vorrat also gut einzuteilen.
Bergab spielt der E-Support keine Rolle, ab 25 km/h setzt die Motorenunterstützung aus. Wir rollen weitaus rasanter am Golf von Manfredonia, dem Sporn des italienischen Stiefels, entlang, wo sich Fischer-Dörfer und Steilklippen in den glitzernden Weiten der Adria verlieren. Im Pinienwald des Gegenanstiegs spreche ich ein zierliches Mädel mit dunklen Rehaugen und tätowierten Unterarmen an – es ist Elisa Scarlatta, ein italienisches Insta-Starlett mit über 50.000 Followern, wie sich später herausstellt.
Der kleine Flirt bringt großes Ungemach, ich vergesse aufs Akku-Wechseln – der nächste Kardinals-Fehler! Bertrand, der gemütliche Franzose aus meinem Team, saugt mittlerweile schon an der dritten Batterie – für mich ist keine mehr übrig. Ich muss mit den letzten Reserven meines Akkus auskommen. Die Übung gelingt. Im Zielort Vieste, einem einstigen Fischerdorf mit Felsbogen am Strand, zeigt der Akkustand noch zwei Prozent an.
Das letzte Quäntchen Saft
Nach 95 kräftezehrenden Kilometern schießen mir auf der kilometerlangen Strandpromenade zum ersten Mal so richtig die Endorphine ein: das muss es sein – das Giro-High! Wir rollen durch frische Pizzaduftschwaden, am Straßenrand winken uns Mädels im Bikini zu. Schon formieren wir uns feixend zum Zieleinlauf – und trauen plötzlich unseren Augen nicht! Wer konnte ahnen, dass der Kurs nochmals eine Schleife macht und über eine bizarr steile Rampe führt, die nur eine Laune der Natur hier wie aus dem Nichts aufgestellt haben konnte? Vielleicht hätte ich am Vorabend doch das Roadbook mit detailliertem Streckenprofil zur Hand nehmen sollen.
Böse Krämpfe verbeißen sich in meine Oberschenkel, während ich vergeblich am Power-Knopf drücke. Von den seitlichen Reihenhaus-Balkonen setzt es hämisches Gelächter: „No batteria“? Hier abzusteigen wäre absolut unverzeihlich. Jetzt muss man aufs Ganze gehen! Ob Batterie oder Beine – ich quetsche das letzte Quäntchen Saft heraus. Am Ziel ist beides absolut reif für den Sperrmüll.
Im exklusiven Giro-E-Bereich, wenige hundert Meter vom Ziel entfernt, kann man sich wieder mit Catering-Lasagne, Bier und Espresso aufpäppeln lassen. Und die Zieleinfahrt der Profis aus nähster Nähe verfolgen. Ziemlich unglaublich: Sie haben hier rund hundert Kilometer mehr in den Beinen, ohne Batterie versteht sich. Jedes Watt aus der Wade.
Am dritten Tag regnet es schon von der Früh weg aus aufgewühlten Wolken, es hat um zehn Grad abgekühlt. Auch das ist Giro. Wir sind mittlerweile in den Abruzzen, einer rauen Gebirgsregion in Mittelitalien, die für ihre Thermalquellen, Eintöpfe und Bären bekannt ist. Auf dem Programm steht eine echte Bergankunft: Es geht 70 Kilometer stetig bergauf zum Ski-Ort Roccaraso auf 1.658 m.
Heute haben wir den Dreh endlich draußen. Gleichmäßig spulen wir unsere Geschwindigkeit ins herbstlich angehauchte Gelände des Majella Nationalparks. Ich esse regelmäßig Energieriegel, bespreche mit dem Begleitwagen den besten Zeitpunkt zum Batterienwechseln, spiele zeitweise den Pace-Maker. Aus dem unbeholfenen Treten der ersten Tage wird ein Rennen mit durchdachter Taktik. „Very good, guys!“ kommt es da sogar dem Kapitän über die Lippen.
Doch was wäre eine Giro-Etappe ohne Drama? Dieses Mal trifft es unseren Co-Kapitän Maurizio – die letzte Team-Challenge hat begonnen, bloß: seine Batterie ist leer.
Und so wuchtet er sein 12-Kilo-Rad gesenkten Hauptes mit nichts als Muskelkraft die Serpentinen hoch. Am liebsten würde Max seinem Vize den Hintern versohlen, stattdessen legt er genau dort Hand an und hilft ihm über den Berg. Ich schiebe von der anderen Seite mit. Diese Wertung werden wir nicht gewinnen, aber wir sind endlich als echtes Team unterwegs.
Eine perfekte Illusion
Ab jetzt heißt es nur noch ankommen. Wir rollen durch abgelegene Dörfer voller jubelnder Tifosi. Kinder strahlen und winken. Selbst im Glockenturm einer Kirche leuchten die rosaroten Luftballons auf. Glaubensbekenntnis: Giro!
Die letzten Kilometer in den Ski-Ort Roccaraso sind bis zu 12 Prozent steil – so ein Anstieg ist selbst mit E-Unterstützung eine Schinderei. Ich ziehe im Sprühnebel davon. Kehre um Kehre: diese Momente möchte ich ganz für mich alleine erleiden – oder genießen. Im Sattel eines Rennrads ist diese Grenze schmal. Ich möchte einmal das Gefühl auskosten, als gefeierter Held ins Etappenziel eines der größten Radrennen der Welt einzufahren. So nahe wie heute werde ich dieser Illusion wohl nie wieder kommen. Beflügelt von ein paar künstlichen Ampere im Rahmen und viel echtem Adrenalin im Blut: Der wahrgewordene Traum vom Giro d‘ Italia.
Danke an die Italienische Zentrale für Tourismus (ENIT) für die Einladung ins Team.
Infos und Adressen: Giro-E – Italien-Rundfahrt auf E-Rennrädern
Der Giro-E findet immer parallel zum Hauptbewerb Giro d'Italia statt. Auch wer kein Influencer oder Journalist ist, hat im Team von RCS Sport eine Chance beim Giro-E teilzunehmen. Voraussetzung ist ein ärztliches Attest und ausreichend Budget. Preis pro Etappe: 1.000 EUR (inklusive Transfers und Unterkünfte). Infos und Anmeldung: www.giroe.it
Backstage-Bereich: Die exklusiven Giro-E-Bereiche (Zugang nur mit Akkreditierung) befinden sich zumeist nur wenige hundert Meter vom jeweiligen Etappen-Ziel entfernt. Dort kann man sich mit Catering-Lasagne, Bier und Espresso aufpäppeln lassen und die Zieleinfahrt der Profis aus nächster Nähe verfolgen. Ihre Etappen sind manchmal doppelt so lang – natürlich ohne Batterie-Unterstützung.
Etappen-Auswahl (Giro 2020)
Der Autor dieser Story hat beim Giro-E 2020 folgende Etappen absolviert:
Etappe 6: Grottaglie – Brindisi
Auf dieser kurzen und flachen Speed-Etappe über die Autostrada 7 bleiben die Akkus fast unangetastet. Ziel ist die süditalienische Hafenstadt Brindisi.
Region: Apulien
Länge: 53 km
Höhenmeter: 100
Etappe 7: Manfredonia – Vieste
Entlang des Sporns des italienischen Stiefels eröffnen sich immer wieder traumhafte Ausblicke auf den Golf von Manfredonia. Das hügelige Terrain und bissige Anstiege summieren sich im Ziel auf fast 2.000 hm. Sehenswert: Der natürliche Felsbogen am Strand von Vieste.
Region: Apulien
Länge: 97 km
Höhenmeter: 1.700
Etappe 8: Caramanico Terme - Roccaraso
Fast nur bergauf: Es geht durch den rauen Majella-Nationalpark hoch nach Roccaraso, einen Skiort auf 1.658 m. Der letzte Anstieg über Kehren ist bis zu 12 % steil und verlangt Profis wie Amateuren alles ab.
Region: Abruzzen
Länge: 71 km
Höhenmeter: 1.800
Unterkünfte
Regiohotel Manfredi
Eingebettet in eine Canyon-artige Landschaft, die ein wenig an das Death Valley im US-amerikanischen Westen erinnert, eröffnet das abseits gelegene Design-Hotel schöne Ausblicke auf die eigene, palmengesäumte Poollandschaft und den Golf von Manfredonia.
regiohotel.it
Hotel Cercone
Das Hotel passt perfekt ins verschlafenen Caramanico Terme, das mitten in der rauen Gebirgsregion der Abruzzen liegt: familiär, gemütlich und mit allerlei Trödel und Teppichen ausstaffiert. Einen kleinen SPA-Bereich mit Dampfbad und Sauna gibt es auch. Warnung: Gekocht wird nicht nur regional, sondern sehr deftig – Rennradler müssen mitunter beim zweiten von sieben Dinner-Gängen aufgeben, sonst könnten sie sich am nächsten Morgen nicht in den Sattel hieven.
hotelcercone.it