Hinkelsteine: Bouldern auf der Koralpe
Bouldern wie die Pioniere: Wer bereit ist, die Beine in die Hand zu nehmen, wird auf der Koralpe im Süden Österreichs mit reichlich Neuland belohnt.
Robert Maruna für das Bergwelten-Magazin August/September 2018
Im Grunde ist Bouldern einfach. Alles, was man dafür braucht, liegt vor einem: eine Matte, ein paar Kletterschuhe, ein Beutel voller Magnesium, eine Bürste und ein Fels. Der sollte im Idealfall nicht zu hoch, zu niedrig, zu glatt, zu flach oder zu steil und erst recht nicht brüchig sein. Viel mehr ist es aber nicht.
Abgesehen von der Aussicht, die fehlt einem oft beim Bouldern. Klar, es gibt den Silvapark oder Felbertauern, aber die meisten Gebiete der Alpen befinden sich in schattigen Wäldern oder verwinkelten Steinbrüchen, und an diesen Orten kommt das Panorama oft zu kurz.
Also sind wir aufgebrochen und nach Süden gefahren. Vier Freunde, die einem Gerücht gefolgt sind, dass an der Grenze zwischen Kärnten und der Steiermark der Fels noch unberührt und der Blick frei ist. Auf einer Alpe, die grün und weit ist.
Zweimal ausrutschen, dreimal stolpern
Schritt für Schritt steigen wir den kleinen Pfad hinab. Links Steine, rechts Latschen. Vor uns Wurzeln, der blaue Himmel über, das Ziel unter uns. Immer wieder bricht der Weg ab, und man muss über PKW-große Steine balancieren – ein lustiger Hindernisparcours.
Langsam werden die Latschen dichter, und schließlich verschwinden wir in einem Meer aus Wurzelwerk und Kiefernnadeln. Zweimal ausrutschen, dreimal stolpern und zig Nadelstiche später spuckt uns der Weg knapp 300 Höhenmeter unterhalb des Gipfels wieder aus.
Wir stehen auf der Alpe, rechter Hand ein gigantischer Haufen aus Granit. Wie die Bruchteile einer riesigen zerbrochenen Murmel aus Stein liegen die Blöcke verteilt über den gesamten Hang: wir haben unser Ziel erreicht (und kein anderer Kletterer weit und breit). Wer auf die Koralpe zum Bouldern kommt, wird sich fast ein wenig einsam fühlen. Denn die üblichen Verdächtigen mit der großen Matte am Rücken sucht man hier vergeblich. Lediglich zwei alte Crashpads, versteckt unter einem der Blöcke, zeugen davon, dass hin und wieder jemand zum Klettern hierherkommt.
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Warum die Koralpe bis dato von einer Karawane felshungriger Boulderjünger verschont geblieben ist, lässt sich in einem einfachen Satz erklären: Der Boulderer ist kein Wanderer. Streng genommen geht er verdammt ungern zu Fuß, und genau darin liegt die Krux. Denn zu den Blöcken der Koralpe führt keine Straße, sondern ein dreistündiger Fußmarsch. Doch wo ein Wille, da auch ein Weg.
Scharf ist der Fels, wir hätten mehr Hornhaut mitbringen sollen. Timo versucht sich immer wieder an zwei kleinen Leisten plus Heel Hook hochzuarbeiten, fällt dann aber doch jedes Mal zu Boden. Er steht auf, sammelt sich, regeneriert ein wenig und probiert es wieder.
Irgendwann werden Linie und Zugabfolge klar sein, dann wird er eine längere Pause einlegen und anschließend seine gesamte Körperenergie in pure Kinetik verwandeln. Wenn es sein muss, wird gekämpft und Haut am Fels gelassen, Hauptsache, man triumphiert und fühlt sich für kurze Zeit unsterblich. So in etwa sieht der klassische Ablauf einer gediegenen Bouldersession am richtigen Fels aus. Auf der Koralpe ist es nicht anders, nur das mit dem Triumphieren will noch ein wenig geübt werden. Timo fällt schon wieder …
Bouldern auf der Alm
Wer zum Bouldern auf die Koralpe kommt, darf keine hochalpinen Erwartungen haben. Denn die Alpe heißt nicht ohne Grund so. „Viele von uns sagen einfach Alm zu ihr“, klärt uns ein einheimischer Wanderer auf, der gerade in Richtung des Großen Speikkogels (2.140 m) unterwegs ist – der höchsten Erhebung der hügeligen Alpe.
„Und weil hier schon immer gewandert wurde“, ist das Wegenetz wirklich beachtlich: In alle Himmelsrichtungen und auf jeden Gipfel führen die gelb beschilderten Wanderwege. Folglich ist das Erschließungspotenzial des Gebiets schier unendlich – wenn man nur bereit ist, ein paar Schritte mehr zu gehen.
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Denn hinter jeder Geländekante poppt wieder ein neuer, besserer und noch steilerer Block auf als jener zuvor. In allen Formen und Abmessungen liegen sie im Großen Kar und nördlich des Großen Frauenkogels (1.891 m) verteilt. Manche von ihnen sehen wie umgestürzte Hinkelsteine, andere wie versteinerte Riesen oder überdimensionierte Tetris-Steine aus.
Egal wofür man sich entscheidet, der Gneis lässt keine Wünsche offen. Einzig und allein die Drahtbürste will ausgepackt werden, da der Fels von dichten Flechten bewachsen ist, die ein Anhalten erschweren. Doch wer ordentlich putzt, wird vielleicht mit einer Erstbegehung belohnt.
Arme leer - Beine schwer
Die Sonne steht bereits tief, und ihr Licht taucht die Landschaft in einen samtig rosaroten Schleier. Auf unserem Rückweg sind wir querfeldein über die Schulter des Kleinen Speikkogels hochgestiegen, zu weit war der Weg entfernt und zu verlockend der direkte Anstieg. Dass es so steil und unwegsam werden würde, hätte allerdings keiner gedacht.
Wir stehen auf dem Gipfelgrat und schnappen nach Luft. Unsere Arme sind leer, die Beine schwer, und die Sonne verschwindet langsam am Horizont. Wir schultern die Matten und steigen zum Koralpenhaus hinab. Als wir die Hütte erreichen, sind bereits die ersten Sterne zu erkennen.
Am nächsten Morgen erkunden wir das Gelände östlich des Seespitzes (2.066 m) und entdecken ein weiteres Kar mit noch weit mehr Blöcken als am Tag zuvor. Genug, um eine ganze Woche oder länger hier oben zu verbringen, doch uns bleibt bloß noch ein Tag. Nach kurzer Überlegung beschließen wir, einfach alles zu klettern, was uns unter die Finger kommt.
Stunden später sitzen wir unter dem letzten Problem des Tages und betrachten unsere Hände: „Da geht nicht mehr viel.“ Wenn sich die Hornhaut einmal von den Fingerkuppen gelöst hat, lässt die Reibung nach, und jede noch so kleine Felsstruktur bohrt sich in die weiche Haut darunter. Nun hat man zwei Möglichkeiten: durchbeißen oder resignieren.
Wind zieht auf, im Westen ist bereits eine graue Wolkenwand zu erkennen, und keine fünf Minuten später kracht der erste Donner. Miriam klappt ihr Crashpad zusammen, und wir beginnen unsere Sachen zu packen. Beinahe hätte die nächste Windböe mein Chalkbag verblasen, da kommt mir Alvin in den Sinn. Fast hätte ich auf den kleinen Lenkdrachen in meinem Rucksack vergessen, nun ist es aber Zeit, ihn doch noch steigen zu lassen.
Schließlich sind die thermischen Verhältnisse rund um die Koralpe unter Drachen-, Gleitschirm- und Modellflugzeugpiloten weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt, nur für die luftigen Klettereien in Absprunghöhe interessiert sich hier – noch – niemand. Das kann sich ja auch schnell ändern.
Alvin und der Zielgriff
Ein letztes Mal schiebt Timo sein gesamtes Körpergewicht über den abschüssigen Tritt. Er schreit kurz auf und schnappt nach dem Zielgriff. Ein paar Millimeter tiefer, und er wäre zu Boden gefallen. Ein paar Sekunden früher, und Alvin wäre aus dem Bild gewesen. Doch in diesem einen Fall klappt es, und der Fotograf drückt im richtigen Moment ab. Oben angekommen, nimmt Timo neben uns Platz und grinst.
Alvin fliegt über unseren Köpfen. Wer zum Bouldern auf die Koralpe kommt, sollte außerdem noch eines mitbringen: Neugierde. Denn für die Koralpe gibt es bislang weder ein Topo zum Download noch eine Gebietsbeschreibung in gebundener Form. Doch genau das macht die Koralpe interessant: nicht zu wissen, was einen erwartet oder welche felsige Überraschung sich hinter dem nächsten Geländekamm versteckt.
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