Kolumbien: Durch den Dschungel in die „verlorene Stadt“
Verehrt, verflucht, vergessen – die Ciudad Perdida ist, ähnlich wie Machu Picchu in Peru, heute das eindrucksvollste Zeugnis einer indigenen Hochkultur in Kolumbien. Über Jahrhunderte lagen die Ruinen im Dschungel der Sierra Nevada versteckt – Manuela Szinovatz, Journalistin aus Wien, hat sie in einem viertägigen Regenwald-Abenteuer erkundet.
Bericht: Manuela Szinovatz
Der Mamo hatte für sein Volk entschieden: Sie würden Teyuna verlassen. So füllten die Tayrona ihre Taschen mit Goldstatuen und Edelsteinen und verschwanden tief in das dichte Grün des Regenwalds. Nach fast tausend Jahren fruchtbaren Lebens hatte sich ihre heilige Hauptstadt im 16. Jahrhundert plötzlich in die Hölle auf Erden verwandelt. Massenhaft waren sie gestorben an rätselhaften Krankheiten, die zusammen mit den spanischen Kolonisatoren gekommen waren. Verflucht geglaubt und für rund 400 Jahre vergessen, verschlang der kolumbianische Regenwald die einstige Hauptstadt der Tayrona. Sie wurde zur Ciudad Perdida – der „verlorenen Stadt“.
Die Legende entdecken
Soweit die Legende, die mich auf die insgesamt rund 46 Kilometer lange Wanderung treibt. Nicht nur das Land, sondern vor allem die Menschen kennenlernen – so lautet das Ziel dieser Reise durch Kolumbien. Die Wanderung zur Ciudad Perdida bietet die einzigartige Chance, in die indigene Kultur der Tayrona und deren Nachkommen einzutauchen. Die Ruinen von Teyuna ruhen auf 1.200 Metern Seehöhe. Der Pfad dorthin ist ein ständiges Auf und Ab – mit deutlich mehr Auf. Der Großteil des Weges liegt im autonomen Gebiet zweier indigener Stämme: der Kogi und der Wiwa. Als Nachfahren der Tayrona leben sie nach ihren eigenen traditionellen Regeln. Wichtige Entscheidungen trifft auch heute noch der spirituelle und politische Anführer, der Mamo. Maximal 180 Personen täglich duldet er in der Ciudad Perdida. Jeden Tag starten mehrere Gruppen von Santa Marta aus in die viertägige Wanderung durch den Regenwald.
Nach einem Mittagessen im kleinen Dorf Mamey geht es für drei Stunden auf einer unasphaltierten, staubigen Straße bergauf. Wir starten heute als zehnköpfige Gruppe in einen bewölkten Nachmittag, absolut ideal. Pralle Sonne wünscht sich bei über 30 Grad keiner, genauso wenig wie Regen, der den Weg in einen knöchelhohen Schlammpfad verwandelt. Camilo aus Bogotá ist mit seinen 64 Jahren der Älteste in der Truppe. Nach wenigen Minuten ist seine Kleidung schweißgetränkt. „Ich bin nicht sicher, ob ich es schaffe. Aber wenn nicht jetzt, wann dann?“ sagt er und lächelt. Die mit Proviant und erschöpften Wanderern beladenen Motorräder wirken verführerisch, doch Camilo setzt stoisch weiter einen Fuß vor den anderen.
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Im grünen Fegefeuer
Am zweiten Tag betreten wir indigenes Land und tauchen ein in das „Infierno Verde“, das grüne Fegefeuer. So tauften die Goldgräber die verlassene Stadt, auf die sie 1973 stießen. Insgesamt hat sie vier Namen: Teyuna, Ciudad Perdida, Buritaca 200 und eben Infierno Verde. Denn um zu dem dort vergrabenen Gold zu gelangen, mussten sich die Schatzjäger zuerst durch das wilde Unterholz des Urwalds schlagen, in dem Moskitos Gelbfieber übertrugen und Jaguare auf Beute lauerten. Auch heute gibt es in der Sierra Jaguare und Panther, allerdings halten sie sich von den Menschen so fern wie möglich. Frösche, Schlangen, überdimensional große Insekten und jede Menge Moskitos sind die einzigen, die sich in unsere Nähe wagen.
Das Land wird mit jedem Schritt ursprünglicher. Lianen hängen von den hoch in den Himmel ragenden Bäumen, rote Papageienblumen leuchten durchs Blätterwerk. Motorräder existieren in dieser Welt nicht mehr, die Lasten tragen Maultiere. Und plötzlich stehen zwei regungslose Mädchen in weißem Gewand mit ernster Miene am Wegesrand. Zwei Kogi Kinder. Das Weiß symbolisiert Reinheit und den Schnee der beiden höchsten Gipfel der Sierra Nevada: Colón und Bolívar. Über 5.700 Meter ragen sie, irgendwo im feuchten Tropendunst versteckt, empor. Im Glauben der indigenen Stämme sind sie heilig und symbolisieren das Herz und die Lunge der Welt.
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Zwischen Koka-Pfanzen und Madre Tierra
Auf dem Weg liegt ein indigenes Dorf umrandet von Koka-Sträuchern, deren Blätter die Männer mit Kalzium aus Meeresmuscheln vermischen und unentwegt kauen. Körperlich gibt ihnen das Kraft, mental stärkt es ihre Spiritualität. Die meisten Palmhütten liegen verlassen, werden nur für Reunionen und Zeremonien genutzt. Die restliche Zeit bewachen zwei bis drei Familien das Dorf, alle anderen Kogi leben in einem Umkreis von mehreren Kilometern verstreut in eigenen kleinen Hütten. Pekona ist eine von ihnen. Zwölf Jahre alt trägt sie ein Baby in einem Tuch wie einen Rucksack mit sich herum. „Es mío“, sagt sie. Es ist ihr Sohn und er heißt Manuel. Die Mädchen heiraten meist kurz nach ihrer zweiten Periode. Dann sind sie reif, um Mutter zu werden, wie es „Madre Tierra“, Mutter Natur, vorgesehen hat.
Es folgt ein stetiges Bergauf und Bergab in aller Schwüle, die Kolumbien zu bieten hat. Allmählich hält die Sprache des Dschungels Einzug ins Bewusstsein. Das unaufhörliche Gezwitscher der Vögel, das Zischen und Surren der Insekten, das Gebrüll ferner Affen. Mitten im Frieden des Urwalds erscheinen plötzlich unerwartete Begleiter: Soldaten. An die 50 sind hier zur Sicherheit der Touristen stationiert. Mittlerweile ist es ruhig in der Sierra Nevada, doch 2003 nahmen Rebellen acht Reisende als Geiseln. Die letzten Gefangenen ließen sie erst nach über drei Monaten frei. Der gesamte Regenwald war einst brandgefährlich, denn hier wurde großflächig Koka angebaut. Die Kontrolle über die Felder übernahmen rechte Paramilitärs. Von den vereinzelten Aussichtspunkten erkennen wir bis heute rechteckige Flächen ohne Bäume – ehemalige Plantagen. 2006 gaben die Paramilitärs ihre Waffen ab, der Drogenhandel verschwand weitestgehend aus dem Gebiet und mit ihm die Gewalt.
Unter Brüdern und Schwestern
Lange bevor ich ihn sehe, kündigt sich der Fluss Buritaca durch ein stürmisches Rauschen an. Drei Mal müssen wir ihn überqueren auf dem Weg zur Ciudad Perdida. Das Wasser ist klar und reicht uns etwa bis zur Hüfte. So ist das Durchwaten einfach, doch bei Regen verwandelt sich der Fluss in einen reißenden Strom aus bräunlichem Wasser, in das man beinahe komplett eintaucht. „Früher überquerten wir den Fluss neun Mal, die Wanderung hat sieben Tage gedauert und alle Vorräte mussten wir selbst tragen“, erzählt Guide Levi von der mittlerweile geschlossenen zweiten Route.
Aus dieser Zeit kennt Levi den mittlerweile verstorbenen Mamo. 120 Jahre soll er alt geworden sein. Danach trat der Sohn in seine Fußstapfen und bezog die Hütte in Teyuna, der Ciudad Perdida. Die Mamos sind die einzigen, die heute wieder dort wohnen. Besuch bekommen sie täglich und immer zahlreicher – von uns Touristen. Auch der 64-jährige Camilo nimmt nun die letzte Hürde und steigt über mehr als 1.200 Steinstufen zu den Ruinen empor. Aus vier Ebenen besteht die Stadt, mit runden Steinterrassen und in Stein geritzten Landkarten. Fast drei Stunden dauert es sie zu erkunden und das obwohl 40 Prozent der Überreste noch immer unentdeckt im Regenwald schlummern. Nachdem wir gegangen sind, reinigt der Mamo den Ort von den schlechten Energien, die wir „Hermanos Menores“, die jüngeren Brüder und Schwestern, hinterlassen haben. An diesem Abend lernen wir einen Ältesten der Kogi Gemeinschaft kennen. In sein weißes Gewand gehüllt entlässt er uns zurück in unsere Welt mit einer eindringlichen Bitte: „Beschützt Mutter Natur, denn wenn ihr sie weiter zerstört, wird das unser aller Ende sein.“
Infos und Adressen: Ciudad Perdida, Kolumbien
Lage: Die Ciudad Perdida liegt inmitten der Sierra Nevada de Santa Marta im Regenwald an der kolumbianischen Karibikküste. Erreichbar ist sie nur mit einer vier- bis sechstägigen Wandertour, die man bei einem der sechs lokalen Touranbieter um einen Fixpreis von umgerechnet rund 285 Euro bucht. Empfehlenswerte Anbieter sind vor allem Expotur oder Wiwa Tour, wenn man einen indigenen Guide bevorzugt.
Anreise: Die nächstgelegene Stadt mit Flughafen ist Santa Marta, die älteste Kolonialstadt Südamerikas. Von dort aus startet die Tour mit einer zweistündigen Fahrt im Minibus zum Dorf Mamey, dem Ausgangspunkt der Wanderung.
Beste Reisezeit: Es gibt zwei Hochsaisonen: Dezember und Jänner sowie Juli und August. Heiß und schwül ist es das ganze Jahr über, zu dieser Zeit hält sich mit ein bisschen Glück aber der Regen in Grenzen. Im September ist die Ciudad Perdida geschlossen, weil die indigenen Völker in diesem Monat verschiedene Rituale und Zeremonien durchführen.
Unterkunft: In Santa Marta gibt es zahlreiche Hotels und Hostels im Stadtzentrum, in dem man sich sicher und einfach zu Fuß bewegen kann. Empfehlenswert ist eine Unterkunft nahe des Parque de los Novios, der Kathedrale oder des Parque Bolívar.