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Foto: Nikolas Haugeneder
Mein Bergprojekt

Endlich nach Santiago de Compostela

• 25. Juli 2020
9 Min. Lesezeit
von Martin Foszczynski

Nikolas Haugeneder hat sich in seinem Beruf verausgabt und beschloss dem „System“ zu entfliehen. Er machte einen lang gehegten Wunsch – zu Fuß nach Santiago de Compostela zu gehen – wahr und traf dabei auf einen Menschen, der sein Leben grundlegend verändern sollte. Uns verrät er, wie das Abenteuer Jakobsweg am besten gelingt und warum das Gehen die schönsten Geschichten schreibt.

Irgendwann konnte Nikolas Haugeneder nicht mehr ruhig schlafen. Er war 25 Jahre im Service tätig, Sommelier eines Haubenlokals und Restaurantmanager eines 5-Sterne-Hotels. Nach einiger Zeit im Weinhandel schreckte er in den Nächten mehrmals auf: „Habe ich wirklich alle Aufträge erledigt?“, spukte es in seinem Kopf herum.

Der heute 48-jährige Oberösterreicher verstand das als deutliches Alarmsignal. Und er zog Konsequenzen daraus, zog die Notbremse. „Raus aus dem System“, hieß seine Devise – und sie führte ihn schließlich auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela, schon seit langem Nikolas‘ Sehnsuchtsziel.

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Beim Jakobsweg („Camino de Santiago“) handelt es sich eigentlich um eine Vielzahl an historischen Pilgerwegen, die aus ganz Europa führend ihr Ziel in jener spanischen Stadt und Kathedrale finden, in der das angebliche Grab des Apostels Jakobus liegt. Der beliebteste Weg ist der „Camino Francés“, der in 32 Etappen und knapp 800 Kilometern von Saint-Jean-Pied-de-Port in den französischen Pyrenäen quer durch Nordspanien nach Santiago de Compostela führt und heute von Menschen aus aller Welt – gläubigen wie ungläubigen – begangen wird.

Nikolas Haugeneder Jakobsweg
Foto: Nikolas Haugeneder
Nicht immer so einsam wie auf diesem Bild: Der Jakobsweg

Bergwelten: Du kommst eigentlich aus der Gastronomie, hast in Österreich, Deutschland und der Schweiz gearbeitet. Dann hast du plötzlich beschlossen, in der Türkei Ziegen zu hüten und dich danach auf den Jakobsweg begeben. Was hat dich zu diesem radikalen Lebenswandel bewogen?

Nikolas Haugeneder: Eine persönliche Krise. Irgendwann kommt wohl jeder zu einem Punkt in seinem Leben, an dem er eine Zwischenbilanz ziehen und Inventur machen muss. Je nachdem, wie die Bilanz ausfällt, muss man neue Entscheidungen treffen. In meinem Fall lauteten die Fakten: Übergewicht, schlechte Blutwerte, hohe finanzielle Verbindlichkeiten wegen Hausbau und Selbstständigkeit, Schlafstörungen und am besten Weg zur zweiten Scheidung. Die Entscheidung: raus aus dem System. Das fühlt sich zunächst an wie ein Sprung aus dem fahrenden Zug. Aber man spürt sich selbst wieder.

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Und du dachtest, dass dich der Jakobsweg am besten „raus aus dem System“ führt? Wie hast du dich auf ihn vorbereitet?

Zunächst wurde ich für 9 Monate zum Ziegenhirten in Anatolien. Das bedeutete, dass ich täglich mit 75 Ziegen zwischen 12 und 25 km durch die anatolische Hochebene gewandert bin, ohne Handy und Internet… das hat mich mit Sicherheit körperlich fit – und meinen Kopf frei – gemacht. Meine Ex-Frau meinte, dass ich jetzt doch alle Freiheiten hätte, um all jene Dinge zu tun, von denen ich die letzten 10 Jahre geredet habe – z.B. den Jakobsweg gehen. Noch in derselben Nacht legte ich meine erste Trainingseinheit ein: 16 km in Straßenschuhen zu Fuß von einer Veranstaltung nach Hause. Danach bin ich 6 Wochen lang täglich mindestens 20 km gegangen oder 60 km mit dem Rad gefahren. Bis es soweit war.

Nikolas Haugeneder Jakobsweg
Foto: Nikolas Haugeneder
In Galicien angekommen. Die Hauptstadt dieser Region im Nordwesten Spaniens ist Santiago de Compostela

Wie lange bist du auf dem Jakobsweg insgesamt unterwegs gewesen und wie viele Kilometer hast du in Summe zurückgelegt?

Vom Verlassen meiner Wohnung bis zur Rückkehr sind 40 Tage vergangen, davon entfielen 33 Tage auf den eigentlichen Camino Francés, der von Saint-Jean-Pied-de-Port 800 km nach Santiago de Compostela führt.

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Wie lange waren deine Etappen im Schnitt?

Die längste Etappe war circa 48 km, die kürzeste 12 km.

Was waren die härtesten Abschnitte? Hast du unterwegs jemals ans Abbrechen und Heimfahren gedacht?

Schon am ersten Tag habe ich mir auf dem Weg durch die Pyrenäen nach 20 km die Bänder im linken Knöchel gezerrt. Schuld waren falsches Schuhwerk, Müdigkeit und ein Augenblick der Unkonzentriertheit, als ich endlich oben am Pass angekommen bin – schon ist es passiert. Es hatte nur 2° C plus und es schneite leicht – mitten im Mai. Die verbleibenden 7 km ins Etappenziel Roncesvalles waren die Hölle, aber am ersten Tag aufgeben natürlich keine Option. Eine heiße Dusche und Voltaren-Gel schufen nur vorübergehend etwas Abhilfe. Auf der 8. Etappe war meine Leidensfähigkeit schließlich erschöpft. Ich war bereit, aufzugeben und die Heimfahrt anzutreten.

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Was ist passiert, dass es doch anders kam?

Als ich so am Straßenrand sitze tritt eine Australierin an mich heran, mit der ich zwei Tage zuvor schon gesprochen habe – jetzt in ihrer Begleitung ein Mann Mitte fünfzig. Sie stellt uns vor: Nikolas, „der Ziegenhirte“ – Ashley, „der Geschichtenerzähler“. Mit ihm bin ich den Rest des Caminos gegangen – er ist der Grund, weshalb ich danach seine „International School for Storytelling“ in England besucht habe und heute selber Storyteller bin. Mit Ashley Ramsden verbindet mich bis heute eine enge Freundschaft. Tania, die Frau aus Australien, hat mich übrigens mit Massagen und viel gutem Zureden wieder zum Gehen gebracht. Nach zwei Tagen waren die Schmerzen bis zum Schluss verflogen.

Das Hochland Meseta im Zentrum der Iberischen Halbinsel präsentiert sich trocken und heiß

Abgesehen von deiner Verletzung, wie ging es deinen Füßen? Wie viele Blasenpflaster hast du verbraucht und was kannst du in der Hinsicht für den Jakobsweg empfehlen?

Man muss seine Füße täglich pflegen, am besten mit Hirschtalg. Schuhe und Socken sollten nicht neu sein, sonst sind Blasen vorprogrammiert. Ganz frei von Blasen wird man natürlich nie bleiben. Meine Behandlungsmethode: Vor dem Schlafengehen mit einer gut desinfizierten Nähnadel Fäden durch die Blasen ziehen und sie am nächsten Morgen entfernen. Die Blasen sind dann trocken und es kommt zu keinen Entzündungen.

Wie sah dein Gepäck aus? Auf welche Dinge hättest du niemals verzichten können?

Ich empfehle einen großen Trekkingrucksack mit 60 bis 85 Litern Fassungsvermögen, wobei man versuchen sollte, unter 10 kg zu bleiben. Dazu kommen ja immer noch 2 Liter Wasser. Ich hatte definitiv zu viel Proviant mit, besonders auf der ersten Etappe durch die Pyrenäen zählt jedes Gramm. Essen bekommt man fast überall entlang der Strecke, eine Banane und ein Apfel reichen vollkommen aus, um etwaigen Unterzucker auszugleichen. Vor allem in der Meseta sind zwei Wasserflaschen unumgänglich – in dieser Hochebene im Zentrum der Iberischen Halbinsel gibt es auf 17 km kein Trinkwasser und keine Bäume, die Schatten spenden. Bei 38°C kann das schnell gefährlich werden. Regenkleidung ist auch sehr wichtig – die sollte man mittels Klett-und Reißverschluss einfach und schnell an- und ablegen können. Das Wetter in den Bergen wechselt schnell. Und auch wenn die meisten Herbergen unterwegs mit sauberen Betten ausgestattet sind – ein eigener Schlafsack ist Gold wert.

Wie übernachtet es sich in den typischen Pilgerherbergen? Gibt es Alternativen dazu?

Eigentlich sehr gut. Natürlich gibt es Qualitätsunterschiede, aber das Abenteuer gehört doch dazu und die Begegnungen mit anderen Pilgern aus der ganzen Welt machen den Jakobsweg auch aus. Ohropax und ab und an ein Einzelzimmer in einem kleinen Hotel schützen vor einem Zuviel an Nähe.

Die Unterkünfte entlang des Jakobswegs sind oft spartanisch eingerichtet

Was hat auf dem Jakobsweg deine Erwartung am stärksten gebrochen?

Eine Ernüchterung sind sicher die „Plastic Pilgrims“. Sie tauchen erst auf den letzten 200 km auf und werden Richtung Santiago immer mehr. Es sind Menschen, die in Flipflops oder Designer-Sneakers mit nur einer Wasserflasche als Gepäck gehen, während ihnen das Reiseunternehmen ihre Koffer von einem 5-Sterne-Hotel ins nächste transportiert. Man entgeht diesen Horden, indem man seine Herberge um 5 Uhr verlässt und gegen 11 Uhr bereits am Zielort ist.

Welche landschaftlichen Abschnitte haben dir am meisten imponiert? Welche waren die anstrengendsten?

Die wildromantischen Wälder um La Faba und der Teil um das „Cruz de Ferro“ sind traumhaft. Aber alle Abschnitte des Wegs haben ihre landschaftlichen und kulturellen Highlights. Eine Ausnahme bilden die rund 10 km durch die Industriezone entlang des Flughafens von Burgos. Hier sollte man den Bus oder ein Taxi nehmen. Niemand muss neben einer stark befahren Straße und rauchenden Schloten pilgern. Am anstrengendsten sind sicherlich die ersten Etappen in den Pyrenäen, einerseits, weil man die meisten Höhenmeter macht, andererseits, weil sich der Körper erst an die tägliche Belastung gewöhnen muss.

Nikolas Haugeneder Jakobsweg
Foto: Nikolas Haugeneder
Um 5 Uhr früh gehört einem der Camino noch alleine

Jeder, der den Jakobsweg gehen möchte, fragt sich wohl, was das für ein Gefühl ist in Santiago anzukommen.

Die letzte Etappe von Monte de Gozo nach Santiago ist relativ kurz, etwa 8 Kilometer. Es ziehen hunderte Pilger durch die Stadttore zum Platz vor der Kathedrale. Es ist Gehen wie auf Wolken. Dann schreitet man durch das letzte Tor – man erfährt einen Schub Adrenalin, steht mit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf dem riesigen Platz. Bei manchen fließen Tränen der Freude. Auf manche warten Angehörige auf dem Platz, die extra angereist sind, um sie zu empfangen. Die meisten kommen vor dem Gottesdienst um 11h an und gehen dann in die Kirche. Die Kathedrale ist bis auf den letzten Platz gefüllt und die Stimmung einzigartig, wie elektrisiert. Hier begreift man langsam welche Leistung, welche Begegnungen und Erfahrungen hinter einem liegen. Aber auch, dass der Weg zu Ende geht und ein neuer beginnt. Es ist ein Ort des Wiedersehens, aber auch des Abschieds. Ich bin die letzten 14 Tage in einer Gruppe aus 9 Menschen aus sieben Ländern, zwischen 21 und 66 Jahren, gegangen – wir haben uns alle erst am Weg kennengelernt.

Der Jakobsweg hat dich und dein Leben offensichtlich verändert. Waren es die Begegnungen mit anderen Menschen, die dich besonders geprägt haben?

Ja, der Jakobsweg ist absolut völkerverbindend. Man trifft Menschen aus allen Erdteilen, allen Religionen und allen Kulturen. Die gemeinsame Sprache ist Englisch. Auch im „normalen“ Leben begegnet man vielen faszinierenden Menschen, aber selten hat man soviel Zeit, ihnen auch zuzuhören wie am Jakobsweg.

Am Ziel vor der Kathedrale von Santiago de Compostela. Der Jakobsweg hat Nikolas mit zahlreichen neuen Freundschaften beschenkt

Einmal im Leben nach Santiago gehen

Auch du träumst davon, den Rucksack zu packen und einmal in deinem Leben den Jakobsweg zu bewältigen? Nicht immer muss diesem Vorhaben eine derart tiefe Lebenskrise wie bei Nikolas Haugeneder vorangehen und nicht in jedem Fall wird es das Leben so radikal verändern. Was du für den rund 800 Km langen Camino Francés auf jeden Fall brauchst sind circa 5 Wochen Zeit und ein Budget von rund 2.800 EUR (gesamt, inklusive Anreise und Unterkünften).

Im Folgenden geben wir dir weitere nützliche Tipps:

Beste Reisezeit: Mai bis Juli und Sept. bis Nov. Von Juli bis August kann es streckenweise bis zu 40 Grad im Schatten haben.

Anreise: Im Regelfall fliegt man nach Pamplona und erreicht per Taxi oder Bus den Startort Saint-Jean-Pied-de-Port. Alternativ kann man auch nach Toulouse fliegen und mit dem Zug nach Saint-Jean anreisen.

Pilgerpass: Der Pilgerpass (Credencial Del Peregrino) wird vom Pilgerbüro der Kathedrale in Santiago de Compostela ausgestellt und ist Voraussetzung für einen Schlafplatz in den Herbergen entlang des Caminos sowie für die Urkunde („Compostela“) – dafür muss pro Etappe mindestens ein Stempel gesammelt werden. 

In Österreich kann der Pilgerpass bei der St. Jakobs-Bruderschaft Östereich auf Basis einer Spende online beantragt werden. Ebenso  im „Quo Vadis“ am Stephansplatz in Wien (Dauer: ein Werktag).

Packliste:

  • Großer Trekkingrucksack (60-85 Liter Fassungsvermögen)
  • 2 Liter Wasser
  • Obst
  • 4x T-Shirt
  • 4x Unterwäsche
  • 4x Sportsocken
  • 1 Pullover
  • 1x Regenkleidung
  • 2x Wanderhose mit abnehmbarem Hosenbein
  • 1x Wanderjacke mit Kapuze
  • 1x Kappe
  • 1x Schlafsack
  • 1x Isomatte
  • 1x Trekkinghandtuch
  • Flipflops (für Duschen)
  • Toilette-Tasche mit den allernotwendigsten Körperpflegeprodukten
  • Hirschtalg und Desinfektionsmittel
  • Nähzeug
  • Aspirin C

Tipp: Das Gesamtgewicht des Rucksacks sollte unter 10 kg bleiben bzw. nicht mehr als 10 Prozent des eigenen Körpergewichts ausmachen.

Nikolas Haugeneder Jakobsweg
Foto: Nikolas Haugeneder
Der „verlängerte“ Jakobsweg führt zum Kap Finisterre, dem „Ende der Erde“

Unterkünfte: Bei den Pilgerherbergen entlang des Jakobswegs gilt das Prinzip „First come, first served“. Es empfiehlt sich, direkt am Etappentag in der Früh (zwischen 8 und 9 Uhr) anzurufen. In den meisten Unterkünften gibt es Waschmaschine und Trockner. Herbergen kosten von freiwilliger Spende bis zu 11 Euro (je näher an Santiago, desto teurer).

Alternativen:

  • Klöster: Ebenfalls „First come, first served“ (bei voller Belegung wird ein Schild rausgehängt). Klöster gelten mittlerweile als ausgesprochen moderne Unterkünfte. Man bekommt eine Bettennummer, gibt seine Wäsche ab und bekommt sie am nächsten Tag gewaschen und getrocknet zurück. Kosten: rund 3 Euro.
  • Unterkünfte mit freiwilliger Spende: Kostengünstig, kann aber recht abenteuerlich sein. Etwa ein eiskaltes Matratzenlager in den Pyrenäen, das man sich mit 30 anderen teilt.
  • Turnhallen: als Notlösung ohne Komfort.

Ärztliche Versorgung: In jedem größeren Ort gibt es einen Arzt und Apotheken. Wer nicht mehr gehen kann, setzt sich in den nächsten Bus. Die europäische Krankenversicherungskarte – sie befindet sich auf der Rückseite deiner E-Card – vorzeigen, so wird die Behandlung über deine Krankenversicherung abgerechnet.

    Etappen und Kartenmaterial:

    • Eine Übersicht der 32 Etappen des Jakobswegs findest du auf jakobsweg.de.
    • Bei der St. Jakobs-Bruderschaft und am Ausgangsort Saint-Jean-Pied-de-Port sind gutes Info-Material und detaillierte Tourenbeschreibungen (mit Abbildungen und Abbiegungen) erhältlich.
    • Als Reiseführer empfiehlt sich das Outdoor-Handbuch Spanien: Jakobsweg Camino Francés.

    3 persönliche Tipps von Nikolas:

    • Nicht bei den Schuhen sparen. Man sollte sich beim Kauf von einem Fachmann beraten lassen und sie vorher gut eintragen.
    • Den Rückflug erst ein paar Tage vor der Rückreise buchen, das nimmt den Leistungsdruck aus dem Unterfangen.
    • Jeden Tag genießen, auch wenn er noch so beschwerlich ist. Sehr empfehlen kann ich auch noch die 3 Tagesetappen bis zum Kap Finisterre, dem „Ende der Erde“, anzuhängen. Dieser verlängerte Jakobsweg wird auch Camino a Fisterra genannt.

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