Reinhold Messner: Die Verpflichtung, sich an der Unmöglichkeit zu messen
Zum berühmtesten Bergsteiger der Welt wurde Reinhold Messner am 8. Mai 1978, als er gemeinsam mit Peter Habeler auf dem Gipfel des Mount Everest stand – ohne künstlichen Sauerstoff. Bergwelten hat letztes Jahr mit ihm anlässlich des 40-jährigen Jubiläums dieser alpinen Meisterleistung ein langes Gespräch geführt.
Interview: Stefan Wagner und Markus Honsig
Bis in die 1960er war Reinhold Messner, geboren am 17. September 1944 in Brixen, eine lokale Bergsteigergröße in den Alpen und den Dolomiten. Mit einem Schlag berühmt wurde er durch die dramatische Nanga Parbat-Expedition im Sommer 1970: Bei der Übersteigung des mit 8.125 Metern neunthöchsten Bergs der Welt ohne künstlichen Sauerstoff kam sein Bruder Günther ums Leben, er selbst überlebte mit schweren Erfrierungen, verlor sieben Zehen.
Zum bis heute wohl berühmtesten Bergsteiger der Welt wurde Messner am 8. Mai 1978, als er gemeinsam mit dem Tiroler Peter Habeler auf dem Gipfel des Mount Everest stand. Nie zuvor hatte jemand den höchsten Berg der Welt ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen.
Bergwelten: Herr Messner, der Mount Everest ohne Sauerstoff hat Sie zum Weltstar gemacht. Was bedeutet Ihnen das 40-Jahr-Jubiläum?
Reinhold Messner: Wenig, ehrlich gesagt.
Aber ein bissl feiern werden Sie es doch?
Nein. Die Kameraden der damaligen Expedition haben zwar gemeint, wir müssen zum Vierziger etwas machen. Aber ich habe gesagt: Warten wir doch bitte wenigstens, bis es 50 Jahre sind.
Herr Messner, wir sprechen immerhin von der Erstbesteigung des höchsten Bergs der Welt ohne künstlichen Sauerstoff. Bei allem Verständnis für Gelassenheit: Da sprechen wir von einer Leistung, die nicht nur den Alpinismus verändert hat, sondern auch unser Wissen über die Grenzen der menschlichen Physiologie. Vor dem 8. Mai 1978 galt die Besteigung des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff als unmöglich, Ihr Plan als Wahnsinn. Man prophezeite Ihnen, dass Sie entweder gleich oben zugrunde gehen oder dass Sie, im besten Fall, als Gemüse zurückkommen…
… als völlig vertrottelt, wenn überhaupt, ja. Als Matschbirne. Das war Stand der Wissenschaft.
Sie waren dennoch überzeugt, dass es klappen kann. Sie vertrauten den Berichten einer in den 1920ern gescheiterten englischen Expedition …
… es gab schon auch einzelne Mediziner, die es für möglich hielten, Oswald Oelz zum Beispiel, der ja dann auch Arzt unserer Expedition war. Aber ja, Somervell und Norton waren für mich der stärkste Beleg, dass es gehen muss. Die beiden waren schon 1924 auf knapp 8.600 Meter gestiegen, mit Lodenhosen, Nagelschuhen, Wickelgamaschen. Nur die Erkenntnis, dass sie nicht mehr als 30 Höhenmeter pro Stunde machen, hat sie aufgeben lassen: 30 Höhenmeter in der Stunde macht 10 Stunden für 300 Höhenmeter, da brauche ich nicht mehr weitergehen. Also scheiterten die beiden in erster Linie am Tempo. Schon 1924, mit dieser Ausrüstung, ohne dass sie davor auf einem 8.000er gewesen waren! Vergleichen Sie das mit meiner Ausgangsposition in den 1970ern: Ich wusste, dass es weltweit damals keinen besseren Alpinisten als mich gab, ich hatte als einziger Mensch der Welt schon drei 8.000er ohne Flasche bestiegen, und die Ausrüstung war mit der aus den Zwanzigern nicht vergleichbar. Aber wissen Sie, dass der Everest ohne Flasche gar nicht die ursprüngliche Idee war?
Nicht?
Es ging uns allen seit Anfang der 1970er um ganz was anderes: um die Südwestwand des Everest. Das war die große Herausforderung, die schönste Wand, das bergsteigerische Ziel schlechthin. Von ’70 bis ’75 haben sich alle an ihr versucht, Engländer, Japaner, Deutsche, Österreicher, alle sind gescheitert, und natürlich hab auch ich drauf hingearbeitet. Aber im Herbst ’75 spaziere ich durch Salzburg, vorbei an diesem Kiosk am westlichen Ende der Getreidegasse. Beim Vorbeigehen, nur so im Augenwinkel, sehe ich die Titelseite einer englischen Zeitung: „Everest“, „Southwest face“ … hingegangen, Zeitung gekauft und sehe: „climbed“. Die Engländer haben es gemacht. In diesem Moment war die Südwest für mich erledigt. Musste ich also was anderes machen. In diesem Moment hab ich entschieden: Ich werde den Everest ohne Maske versuchen.
An einem Zeitungsstand in der Getreidegasse ist die Entscheidung gefallen, ohne Sauerstoff auf den Mount Everest zu gehen?
Ja.
Man stellt sich Anlässe historischer Ereignisse gerne erhabener vor.
Es sind schon noch drei Überlegungen dazu gekommen, ganz praktische Dinge. Erstens hatten der Peter Habeler und ich schon im selben Jahr den Hidden Peak im Alpinstil bestiegen. Wir waren also die ersten, die ohne Hochlager, ohne Fixseile, ohne Träger, ohne Sauerstoff auf einen 8.000er gestiegen sind, so wie man sonst aufs Matterhorn steigt. Und mir war klar, dass man genau auf diese Art auch den Everest ohne Maske besteigen kann. Zweitens hatte ich mit Peter den perfekten Partner, das war der Einzige, der die Kraft, die Schnelligkeit, die Kondition und das alpinistische Können hatte. Der Peter konnte auch noch klettern, wenn er schon halb geschlafen hat. Und drittens: In dieser Zeit kam die Everest-Genehmigung für 1978 für die österreichische Expedition von Wolfgang Nairz. Das hat sich günstig ergeben, da haben wir uns reinverhandelt.
Lassen Sie uns noch zurück gehen zur Skepsis der Mediziner. Was war das für ein Gefühl, dass es jederzeit, bei jedem Schritt zur Tragödie kommen kann, auch wenn Sie bergsteigerisch alles richtig machen? War Ihnen diese Ungewissheit egal, dass einfach eine Ader im Hirn platzen kann und aus, Sie fallen einfach um …
… oder Sie werden höhenkrank, eine Ader im Gehirn platzt, Äderchen in den Augen, Sie werden blind und finden nimmer runter, die Bedenken der Mediziner kannte ich, ja.
Und die Bedenken wurden durch den Verlauf der Expedition alles andere als zerstreut: Zunächst stürzte ein Sherpa ab und starb, später erlitt ein anderer einen Gehirnschlag, war halbseitig gelähmt, Sie mussten ihn den Berg runtertragen. Und trotzdem: Sie gehen einfach weiter, im Bewusstsein, dass bei jedem Schritt eine Ader im Hirn platzen kann, in der Lunge, im Auge? Da war jeder Schritt eine neue Lebensgefahr, die nicht einmal was mit Ihrem bergsteigerischen Können zu tun hatte. Sie haben nicht nur die Grenzen Ihres Könnens herausgefordert, sondern auch die der menschlichen Physiologie. Das ist doch größenwahnsinnig!
Nein, das war elementarer Teil der Herausforderung. Grenzgänger gehen ja ganz bewusst dorthin, wo sie umkommen können. Es geht darum, die Angst, die uns zurückhalten will, zu überwinden, den Selbsterhaltungstrieb, der ja ein egoistischer Trieb ist, der alles tut, um uns zurückzuhalten, der lässt dich nächtelang nicht schlafen vor Angst. Es geht darum, ihn zu überwinden, sich rauszuwagen in diese absolut menschenfeindliche Welt, in der ich umkommen könnte, aber eben mit dem Ziel, nicht umzukommen. Das Nicht-Umkommen, dort, wo man jederzeit umkommen könnte, das ist die große Kunst. Dann habe ich am Ende, wenn ich zurückkomme, nicht nur überlebt. Es ist viel mehr. Es ist das Erlebnis einer Art Wiedergeburt. Sie kommen zurück und haben das Gefühl, das ganze Leben steht vor Ihnen, es ist ein neues, ein frisches Leben, voller Kraft. Sie sind im wahrsten Sinn des Wortes neu geboren. Das ist das größte Geschenk. Aber dieses Gefühl des Wiedergeborenseins, nachher, das gibt es nicht ohne die Überwindung davor.
Aber Sie sind nicht mit diesem philosophischen Konstrukt als 33-Jähriger zum Everest aufgebrochen.
Nein, nein, diese Erkenntnisse sind alle später gekommen. Ich wollte natürlich allen einfach widersprechen, allen beweisen: Ihr seid Dummköpfe. Aber es war schon auch mehr. Für mich ist Alpinismus ja nicht zuallererst eine sportliche Tätigkeit, sondern eine kulturelle Auseinandersetzung zwischen Mensch und Berg. Und zu dieser Auseinandersetzung gehört, dass der Alpinismus sich seit 250 Jahren entwickelt, an einer einzigen Prämisse entlang: Die junge Generation will möglich machen, was die alte als unmöglich erklärt hat. Das ist alles, worum es geht, das ist unser Mittelpunkt, das ist unser Handwerk. Das Unmögliche zu versuchen, das Unmögliche zu ermöglichen.
Sie waren gut genug vorbereitet, um die Warnsignale zu kennen, auf die Sie jenseits der 8.500 Meter achten mussten: Verwirrtheit, Orientierungsverlust, Sprachstörungen.
Ja.
Und Sie wussten: Wenn Ihr Körper diese Signale sendet, wird’s richtig brenzlig.
Ja.
Sie beschreiben in Ihren Büchern, wie Sie alle diese Symptome bekamen, eines nach dem anderen.
Ja.
Trotzdem sind Sie weitergegangen.
Wie wir heute wissen. (Lacht.)
Am Gipfel waren Sie so verwirrt, dass Sie eine volle Filmkassette in den Abgrund geworfen und die leere Hülle behalten haben. Auf dem Filmmaterial, das von oben erhalten ist, sagen Sie den in seiner Erhabenheit ziemlich kuriosen Satz: „Mich überkommt die Vorstellung, dass ich schon lange da oben sitze.“ Also, wenn Sie erlauben, bei allem Respekt, das war schon ein bisschen Matschbirne.
Haha, an den Satz kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Aber ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie verzweifelt der Peter und ich am Ende waren wegen unserer Langsamkeit. Jeder Schritt, jeder Atemzug, jedes Wort, jeder Gedanke, alles so unglaublich langsam. Man beobachtet sich selbst in der Zeitlupe der Bewegungen, des Denkens. Alles wird langsam und unscharf, weil das Gehirn ja nicht voll durchblutet ist.
Sie hatten alle Symptome, die die Mediziner prognostiziert hatten, jedes einzelne! Hätte es nicht die Möglichkeit gegeben, einfach zu sagen, okay, es geht nicht, es ist unmöglich, wir haben es probiert, aber der Mensch ist einfach nicht für hier heroben geschaffen?
Kennen Sie meinen Aufsatz „Mord am Unmöglichen“? Den habe ich lange vor dem Everest geschrieben, als junger Kerl, als pubertierender Alpinist, da war noch keine Rede von einem 8.000er. Es ist einer der Schlüsselaufsätze im Alpinismus, der wurde in die ganze Welt übersetzt. In dem Aufsatz sage ich, wenn wir hergehen und mit Technologie, mit Bohrhaken, Sauerstoffgerät und Hubschrauberunterstützung die Probleme am Berg lösen, dann ist der Alpinismus tot. Dann gibt’s kein Unmöglich mehr. Und ohne diesem Unmöglich kann sich der Alpinismus nicht weiterentwickeln. Die Leute haben nach dem Aufsatz gesagt, der Messner ist ein Mörder, der will, dass die Leute ohne Bohrhaken steigen und runterfliegen, Riesendiskussion. Aber was ich damals geschrieben habe, das gilt für mich immer noch: Der traditionelle Alpinismus funktioniert nur dort, wo ich in Eigenverantwortung Todesgefahr auf mich nehme. Den Aufsatz habe ich 1968 geschrieben, übrigens, fällt mir gerade ein. 50 Jahre. Dieses Jubiläum, das werde ich heuer feiern.
Das 50. Jubiläum eines Aufsatzes ist Ihnen wichtiger als 40 Jahre Everest ohne Sauerstoff?
Viel wichtiger, ja. Weil er erklärt, wieso ich niemals einfach nur ehrgeizig war. Ich wollte nicht nur berühmt werden oder genug Geld verdienen, um mir eine nächste Expedition leisten zu können, sondern da war schon auch eine andere Dimension im Hintergrund, diese philosophische Dimension, diese Verpflichtung, sich an der Unmöglichkeit zu messen.
Sie haben in den Jahrzehnten rund 50 Bücher geschrieben, und sehr oft schreiben Sie darin übers Gehen an sich, übers Gehen in Extremsituationen. Wie man sich dabei selbst beobachtet, beim Gehen, beim Denken, beim Reden. Ich und ich: Woher kommt diese alpinistische Schizophrenie?
Ich muss Sie enttäuschen, die Physiologen sagen, das ist gar keine Schizophrenie. Am Nanga Parbat ’70 etwa war es wahrscheinlich der Wassermangel, das Ausgedörrtsein, aber ich sah da eindeutig einen Menschen, der vor mir herging, ein schattenhaftes Wesen, ich habe zu meinem Bruder gesagt: „Jetzt brauchen wir keine Angst mehr haben, den Weg nicht zu finden, weil da ist einer, der mir den Weg zeigt.“ Meine Wahrnehmung war ganz eindeutig. Und am Everest, später, bei der Alleinbesteigung ’80, hatte ich ganz oben das Gefühl, ich hocke da, und da sitzt einer, der ist auch da, mit dem kann ich kommunizieren, ohne zu reden, weil wir freuen uns beide, jetzt sind wir da, unendlich müde, aber wir werden auch gleich wieder gemeinsam runtergehen. Ich sah ihn nicht, weil er ein bisschen versetzt hinter mir saß, aber ich wusste, wenn ich mich umdrehe, sehe ich ihn und wir können reden.
Was muss denn passieren, damit ein zweiter Messner auftaucht?
Es hat wohl physiologisch mit der Höhe zu tun, aber auch mit der Verzweiflung einer Situation, in der man sich absolut am Rande der Möglichkeiten befindet. Als würde dir dein eigenes Gehirn helfen wollen, aus der Verzweiflung raus, wenn du den Weg nicht findest, oder gegen die Einsamkeit. Weil wir sind ja als Menschen nicht gemacht für die Einsamkeit da oben, wir sind ja nicht gemacht, allein am Ende der Welt zu sein. Wir wünschen uns, diese Erfahrungen zu teilen und vor allem jemand zu haben, der da sagt: Jetzt isses gut, jetzt gehen wir runter.
So einen hatten Sie 1978 am Everest. Und nicht als Einbildung, sondern ganz konkret. Peter Habeler hat Pfeile in den Schnee gezeichnet, die ins Tal zeigen, das war das vereinbarte Zeichen für: Brechen wir ab, drehen wir um.
Ja, eine Zeitlang hat der Peter schon gezweifelt.
Und Sie haben mit einem in den Schnee gezeichneten Pfeil geantwortet, der nach oben zeigt.
Das war eine kurze Phase, in der er gezweifelt hat, vier, fünf Stunden vor dem Gipfel. Aber am Ende war er ja dann wieder ganz bei der Sache.
In diesem stummen Streit der Schneepfeile haben Sie das Leben eines zweifachen Familienvaters gefährdet. Sie selbst waren damals sehr unglücklich, weil kurz davor eine große Beziehung zerbrochen war. War da auch eine Todessehnsucht dabei, die auf das Lebensglück Ihres Partners keine Rücksicht genommen hat?
Nein, nein. Wäre der Peter abgestiegen, wäre ich mit abgestiegen. Peter hat das zwar in seinem Buch anders dargestellt, aber das war Bullshit. Keiner von uns beiden wäre weitergegangen, wenn der andere aufgegeben hätte. Wir hätten das auch nicht können. Dieser Marsch zum Gipfel war nur möglich im Teilen der Sorgen, im Teilen der Ängste und im Teilen der Hoffnungslosigkeit, die man ja unweigerlich unterwegs kriegt.
Zwei Jahre später, Ihr Solo-Aufstieg auf den Everest, war dann sehr viel schwieriger, schreiben Sie. Eben weil Sie niemanden hatten zum Teilen.
Genau. Ja.
Aber Sie haben doch mit Habeler in Wahrheit ab der kritischen Höhe ohnehin nichts mehr geteilt außer Symbolen im Schnee?
Aber man weiß, dass der Andere da ist. Und das reicht, das reicht vollkommen. Er ist da. Reicht vollkommen. Und macht einen riesigen Unterschied. Das Teilen findet nur empathisch statt.
Wenn es um die ganz großen Dinge des Lebens geht, hat allein die Anwesenheit eines anderen Menschen etwas fundamental Tröstliches?
Ja. Offenbar so sehr tröstlich, dass man sich diesen anderen sogar herillusioniert.
Habeler und Sie waren mit einem Seil aneinander gesichert, aber das Seil war so locker befestigt, dass es gar keinen Sicherheitsvorteil gebracht hat.
Ja, das ist richtig. Weil wir so minimal gesichert haben.
Verbundenheit zwischen zwei Menschen in einer Extremsituation als Selbstzweck, als Wert an sich. Das ist eine schöne Botschaft.
Nun ja, es gibt schon einen praktischen Aspekt. Wenn man auf den Südgipfel kommt, sieht man erstmals den Hauptgipfel. Und der Grat dorthin ist ziemlich verwechtet, wir sind da de facto ins Nichts gestiegen. Das war ja nicht wie heute, dass da eine Piste ist, sondern da war nichts, keine Spur, nichts, außer extrem viel Schnee und fürchterlicher Wind. Der Grat wäre für einen guten Bergsteiger kein Problem, aber in dieser Höhe, müde, bereits die Spiegelung sehend, weil Peter hatte diese Halluzinationen der zweiten Person ja auch schon, diese großen Wechten, da haben wir uns zusammengehängt. Einfach nur ein Knoten, keine Brustgürtel, ein ganz dünnes, ich glaub, 6-Millimeter-Seil. Gut. Auf diesem Wechtengrat, einer geht, der andere geht ein bissl versetzt dahinter. Wenn einer grade raus stürzen würde, könnte es sein, dass beide hängen bleiben.
Und wenn der eine auf die nepalesische Seite stürzt, schmeißt sich der andere Richtung Tibet?
Aber der auf der tibetischen Seite hätte ein großes Problem, wieder herauszukommen, weil da die Wechten überhängen. Nein, wenn da der erste runterfliegt, dann fliegt der sowieso ins Nichts und reißt den anderen mit. Vermutlich wäre es gescheiter gewesen, sich bis zum Gipfel nicht anzuhängen. Rein praktisch gesehen hat das Seil mehr Nachteile als Vorteile gehabt.
Sie haben unmittelbar nach der Rückkehr vom Gipfel beschlossen, es alleine zu versuchen: Everest, ohne Sauerstoff, Alleingang. Noch einen draufsetzen.
Das war die logische nächste Herausforderung, völlig logisch. Gleich in Kathmandu hab ich bei der Regierung für eine Erlaubnis angefragt, eine Woche, nachdem wir am Gipfel gewesen waren. Also noch frisch in meinem Wiedergeburtsgefühl. (Lacht.)
Sie sind da allein ins Ministerium gestapft, mit der frisch angefrorenen Nase und den frisch angefrorenen Fingern?
Ja, allein, natürlich, das sollten die anderen ja nicht wissen. Ich habe meine großen Projekte nie im Voraus ausgeplaudert. Aber die Beamten haben gesagt, das erlauben sie nicht, das ist zu gefährlich.
Zwei Jahre standen Sie dennoch allein am Everest.
Über Nepal ging es nicht. Also war ich dann ’79 nach einer K2-Expedition in Peking wegen einer Permit für mein Everest-Solo-Projekt. Die haben sofort gesagt: No problem, Sie müssen nur zahlen. Ich hatte mit dem Everest ’78 viel Geld verdient für meine Verhältnisse, aber die Chinesen waren tolle Kapitalisten. Die wollten sehr viel Geld.
Daraufhin haben Sie Ihren Porsche verkauft, damit Sie allein auf den Everest dürfen.
Alles hab ich verkauft, außer mein Haus, das hab ich behalten. Aber stellen Sie sich vor, wie mir das Schicksal ja auch positiv mitgespielt hat: Ich komme ’80 heim vom Everest, Flugplatz in München, halten mich Leute an, stellen sich vor, sie sind von Volkswagen und sagen: „Herr Messner, unser Chef wird 60, und der wünscht sich nichts anderes zum Geburtstag als ein Abendessen mit Ihnen.“ Ich drauf: „Wann denn?“ – „Heute oder morgen Abend.“ Ich fand das richtig peinlich, ich kannte den Herrn ja nicht, was sollte ich mit dem reden? Die darauf: „Was wollen Sie dafür haben? Wir fliegen Sie mit der Privatmaschine hin. Und brauchen Sie vielleicht ein Auto?“ Ich drauf: „Ja, genau das brauche ich, ich habe gerade meins verkauft.“ Und bin dann aus Wolfsburg mit einem Golf GTI heimgefahren. (Lacht.) Schön, nicht?
Lassen Sie uns noch ein bisschen im Jahr ’78 bleiben. Uns würde interessieren, unter welchen Bedingungen Sie den Everest in Angriff genommen haben.
Der größte Unterschied: Wenn ich heute im Basislager wissen will, wie das Wetter wird, greif ich zum Handy und ruf in Innsbruck an. Davon konnte man damals nicht einmal träumen. Es gab noch nicht einmal gescheite Telefonverbindungen ins Ausland.
Wie haben Sie denn Ihre Reisen dann überhaupt vorbereitet?
Mit Briefen zum Beispiel. Für die erste 8.000er-Genehmigung, Gasherbrum I, musste ich nach Rom in die pakistanische Botschaft fahren, um dort mit dem Botschafter alles auszuhandeln.
Heute ist das eine E-Mail, fünf Minuten, fertig.
E-Mail schreiben kann ich bis heute nicht. Meine Sekretärin, die Frau Ennemoser, druckt mir die Mails aus, und ich antworte handschriftlich.
Sie scannt das dann ein und schickt den Scan dann per Mail zurück.
Und ich bin wahrscheinlich schneller beim Antworten als die meisten anderen Leute. Unterschätzen Sie mir die Handschrift nicht. Ich schreibe ja auch meine Bücher alle mit der Hand.
Nicht nur die Telekommunikation war 1978 noch nicht, was sie heute ist, sondern auch die Trainingslehre oder die Ernährungswissenschaft. Sie haben als Training Ihrem Körper tagelang Nahrung und Wasser entzogen.
Ja.
Wasser entziehen, das weiß man heute, das bringt trainingsmäßig gar nichts, aber schadet dem Organismus umso mehr.
Widerspruch. Mein Körper hat von klein auf gelernt, mit Wassermangel umzugehen. Ich bin, seit ich ein Kind war, alles mit meinem Bruder geklettert. Und da wollten wir keine Rucksäcke voller Glump mit uns herumtragen. Also haben wir kein Wasser mitgenommen, sondern sind davon ausgegangen, dass wir schon irgendwo Wasser finden werden, in der Wand, und essen war sowieso eine Kleinigkeit, das braucht man sowieso tagelang nicht. Wenn wir mal biwakieren mussten, weil eine Tour länger gedauert hat als gedacht, dann hatten wir eben kein Wasser dabei. Das war nichts Besonderes für uns. So haben sich unsere Körper automatisch darauf eingestellt.
Herr Messner, der Körper kann sich auf Dehydrierung nicht einstellen.
Das glaub ich Ihnen nicht. Sonst wäre ich ’70 am Nanga Parbat garantiert umgekommen. Dort war ja das Hauptproblem, dass wir kein Wasser hatten. Da sind wir vom letzten Lager die fast 1.000 Meter hohe Rupalwand raufgeklettert, Erstbegehung, sehr schwierig, und sind in unserer jugendlichen Begeisterung gleich weiter zum Gipfel, das ist ja im Vergleich dazu ein Kinderspiel, das letzte Stück. Und beim Abstieg …
Wie lang hatten Sie da nichts getrunken?
Seit dem Abend vorher, und auch da fast nichts. Also ungefähr 20 Stunden …
… und das bei höchster Anstrengung auf 8.000 Metern Höhe, Herr Messner, da waren Sie nach dem heutigen Stand der Wissenschaft bereits verdurstet.
Mein Bruder hatte schon relativ bald beim Abstieg Anzeichen von Schwierigkeiten, nicht mehr sicher gestanden, immer wieder hingehockt. Dann haben wir dort die Nacht verbracht. Ohne Kocher und damit ohne Wasser.
Sie hätten doch Schnee essen können.
Bei 30 Grad Minus? Da kann niemand Schnee essen. Das geht nicht.
Aber wenn ich die Wahl habe zwischen Schnee essen und verdursten?
Dann verdursten Sie. Hundertprozentig. Weil es Ihnen die Haut in Fetzen von den Lippen reißt, wenn Sie den Schnee nur ansetzen.
Sie wären mitten im gefrorenen Wasser verdurstet.
Sie verdursten auch mitten in der Antarktis, wenn Sie nicht Schnee schmelzen können. Und in der Antarktis liegen 86 Prozent des gesamten Süßwasservorrats der Erde. Der Durst jedenfalls war das Schlimmste. Wir sind dann tagsüber runtergeklettert, schon am absoluten Rand unserer Möglichkeiten, haben nochmals genächtigt, dann morgens wieder weiter. Dort ist dann mein Bruder umgekommen, als ich voraus gegangen war, über die Gletscherspalten, um den Weg zu suchen. Als ich dann in die Sonne gekommen bin, auch gefährlich, weil Sonne heißt Lawinen, gab es die ersten Rinnsale im Gletscher, und dann konnte ich Gletscherwasser schlabbern. Wäre ich oben geblieben und hätte auf meinen Bruder gewartet, wäre ich verdurstet. Und bis ich was zum Essen hatte, sind nochmal zwei Tage vergangen, und selbst das war reines Glück, weil da Leute auf der Hochalm waren. Sonst wäre ich dann noch verhungert. Wäre mein Körper nicht geübt darin gewesen, lange Zeit ohne Essen und Trinken auszukommen, ich hätte das dort nie überlebt.
Haben Sie so eine Situation später noch einmal erlebt?
Nein, so extrem nie mehr.
Erzählen Sie uns bitte, wie Sie sich ’78 auf den Everest vorbereitet haben, wie das trainingswissenschaftlich ausgesehen hat.
Trainingswissenschaft gab’s damals ja nicht. Aber wir haben genau das Richtige getan. Wir sind ganz steil bergauf gerannt, 1.000 Höhenmeter, also wirklich gerannt, so schnell wir konnten, ich auf meiner Strecke in Südtirol, der Peter im Zillertal, jeder auf Zehenspitzen. 1.000 Höhenmeter sind die letzte Strecke am Everest, und im Grunde brauche ich gleich viel Energie für 1.000 Everest-Höhenmeter wie für 1.000 Höhenmeter in Südtirol. Das Problem am Everest ist nur, dass ich den Sauerstoff nicht hab. Aber wenn ich schnell laufe, das heißt, wenn ich mich im Grunde übernehme, wenn ich schnaufe wie ein Hund, dann müssen Herz, Kreislauf, Lunge absolut am oberen Level arbeiten. So haben wir trainiert. 35 Minuten war meine Zeit für die 1.000 Höhenmeter auf einem alten, gepflasterten Weg. Das war das beste Training, das es gab, 1.000 Höhenmeter rauf rennen. Auf Zehenspitzen.
Herr Messner, Sie hatten damals nur mehr drei Zehenspitzen.
Ja, Peter auf Zehenspitzen, ich halt auf dem Ballen gelaufen.
Auf den Stummeln der abgefrorenen Zehen? Das tut doch höllisch weh.
Nicht so schlimm wie das Klettern, wo der Schuh ja auf den Stumpf drückt. Das tut wirklich weh. Und auf den Stummeln hatte sich ja auch Hornhaut gebildet.
Wie oft am Tag sind Sie diese 1.000 Meter raufgerannt?
Zwei, dreimal in der Woche. Dazwischen war ich Bergsteigen und hab Vorträge gemacht.
Das war Ihre Vorbereitung auf die Erstbesteigung des höchsten Bergs der Welt ohne künstlichen Sauerstoff?
Ja.
Krafttraining?
Nein! Das wäre ja völlig kontraproduktiv. Die Muskeln müssen in der Höhe ja ernährt werden vom Sauerstoff. Das ist ja der Grund, warum exzellente Kletterer so große Probleme haben beim Höhenbergsteigen. Die sind zu muskulös.
Heute würde man ein solches Projekt nach einem exakten Trainingsplan angehen, medizinisch und leistungsdiagnostisch penibel überwacht.
Wir haben nix gemessen. Aber Sie müssen das im biografischen Zusammenhang sehen, ich bin seit meinem fünften Lebensjahr auf die Berge gestiegen, und ab 18 hab ich mich entlang einer Prämisse entwickelt: möglich oder unmöglich? Und das Unmögliche war immer die Orientierung.
Wir haben noch nicht über die Ausrüstung von 1978 geredet.
Ah, die war schon ganz gut.
Sie sind nicht mehr mit Lederschuhen raufgegangen, oder?
Nein. Aber beinahe. Lederschuhe, Leder und Filz, das war eigentlich noch der Standard, aber das wird ja mit der Zeit da oben ein einziger Eisklumpen, da sind Erfrierungen vorprogrammiert. Also haben wir eigene Schuhe für das Projekt entwickelt, Plastikschuhe und künstliche Innenschuhe, das war meine Idee. Plastik ist zwar schlechter als Leder, aber dafür kann ich überm Kocher in wenigen Minuten den Schweiß raustrocknen. Und das war sehr wichtig. Deswegen ist uns auch keine Erfrierung passiert.
Wer hat Ihnen die Plastikschuhe gebaut?
Kastinger, das waren Schischuherzeuger. Wir sind zu denen in die Fabrik gegangen und haben gesagt: Bitte, wir brauchen Bergschuhe aus Plastik. Die wurden dann aus Schischuhmodellen zusammengebastelt, mit Leder im oberen Teil, aber die Basis waren Schischuhe.
Jeder von uns weiß, wie man mit Schischuhen geht. Kann man sich das so vorstellen?
Ja. Nicht so wie mit heutigen Schischuhen, natürlich, die wiegen ja nichts mehr. Es war nicht einfach, damit zu gehen, aber mit den Steigeisen ging es ganz gut. Und wie gesagt, keine Erfrierungen, das war das Wichtigste. Die Ausrüstung, würde ich sagen, war nicht der ganz große Unterschied zu heute. Was heute der Vorteil ist, ist das Telefon. Das Telefon, das ist ein wirklich großer Vorteil.
Herr Messner, vielen Dank für dieses Gespräch.
Warten Sie. Schreiben Sie noch, die Hauptideen, die mich umtreiben, die mich aufwachen lassen, sind die Filme. Früher wollte ich auf den Berg hinauf, der Film dazu war mir wurscht. Heute will ich einen Film machen und nicht auf den Berg hinauf. Geh ich noch, privat, Gämsen schauen, aber wichtig ist mir der Film. Ich habe noch ein halbes Dutzend Ideen für Filme im Kopf, das reicht bis zu meinem Lebensende. Ich werde damit kein Geld verdienen, aber das interessiert mich, Filme zu machen, das möchte ich jetzt tun bis zu meinem Tod.
Sind Sie eigentlich ein glücklicher Mensch, Herr Messner?
Um glücklich zu sein, braucht es nur eine Gabe: die Gabe, es zu wagen, seine Ideen umzusetzen. Während ich das tue, entsteht gelingendes Leben, da frage ich mich nicht mehr, ob ich glücklich oder nicht bin, ich bin es. Solange sich jemand fragt, ob er glücklich ist oder nicht, ist er unglücklich.