Weitwandern in der Wachau
Zwei Tage von Dürnstein nach Spitz: Die Wachau mit ihren steilen Weingärten und der hier noch frei fließenden Donau gehört zu den schillerndsten Regionen Österreichs. Ihre Durchwanderung ist ein Lüften eingesessener Klischees, vielleicht sogar eine Neukalibrierung der Landschaft.
Christian Seiler für das Bergweltenmagazin Oktober/November 2020
Die Wachau ist, sagen wir es vorsichtig, eine Sitzlandschaft. Im Frühling kennen wir sie als Kulisse, wenn wir die prachtvolle Marillenblüte besichtigen, zum Beispiel aus dem Inneren des sitzgeheizten Automobils. Im Sommer rahmt sie den fabelhaften Garten des Loibnerhofs ein, wo wir eine wohlverdiente Mahlzeit einnehmen.
Im Herbst cruisen wir mit dem Ausflugsschiff an Dürnstein vorbei Richtung Spitz: Wie eindrucksvoll, wie majestätisch ist nicht diese Wachau, wenn wir einen Platz auf dem Sonnendeck ergattert haben. Das hat natürlich ernste Auswirkungen auf das Bild, das diese kleine große Weltlandschaft bei uns hinterlässt. Unser Blick ist darauf beschränkt, über die Weingärten nach oben zu schweifen und die Ordnung der Farben und Formen als natürlich zu akzeptieren.
Die flachen Gärten der Dorflagen lassen sich von den steiler ansteigenden Hängen der Federspiel- und Smaragdterrassen ablösen. Die Urgesteinsabbrüche und verstreuten Felsformationen dienen den Hängen als Interpunktion, sie verleihen den Weingärten Ordnung und Rhythmus, bevor sie in die geduldigen, dunklen Flächen des Waldes übergehen, die sich der Kuppen des Flusstals bemächtigt haben. Dazwischen die Winzerdörfer mit ihren Labyrinthen, die jeweils zielsicher in berühmte Weinkeller führen.
Die Weine der Wachau haben ja nicht nur Geschmack, sondern auch Klang. Knoll. Pichler. Hirtzberger. Klingelt’s?
Die Durchwanderung der Wachau ist also ein Lüften eingesessener Klischees, vielleicht sogar eine Neukalibrierung der Landschaft. Ich kam mir vor, als würde ich, festes Schuhwerk an den Füßen, eine Fototapete betreten, die bislang die Welt meiner Sonntagsausflüge dekoriert hatte. In Dürnstein suchte ich den Einstieg zum Welterbesteig Wachau.
Der Welterbesteig – sein Signet ist eine hübsche Welle, W wie Wachau – führt auf 14 Etappen von Krems nach Melk und wieder zurück, ich habe mir die Etappen zwei und drei ausgesucht: von Dürnstein über Weißenkirchen nach Spitz, sozusagen das Kernland der Wachau, oder sagen wir: ihre berühmtesten Kilometer.
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Die Orientierungstafel des Österreichischen Touristenklubs, Sektion Wachau, schickte mich über den steilen „Eselsteig“ Richtung Ruine, nicht ohne zu warnen: „Gutes Schuhwerk nötig!“ Kein Problem. Ich stapfte los, blieb aber immer wieder stehen, weil sich alle paar Meter die Landschaft unter mir neu faltete. Vor mir erkannte ich jetzt die robusten Strukturen der mittelalterlichen Häuser und Höfe Dürnsteins, die eng zusammengepackt sind und vom barocken Augustinerchorherrenstift prachtvoll flankiert werden.
Ich betrachtete den berühmten Barockkirchturm Dürnsteins, der in einem luftigen Blau erstrahlt, das von seiner Farbtemperatur die exakte Entsprechung von Zuckerlrosa ist, nur ohne Rosa. Auf der anderen Seite der Donau strecken sich die Weingärten von Rossatz aus, flach und bunt, jeder in seiner eigenen Version von herbstlichem Gelb. Ich schaffte es also nicht in 20 Minuten zur Ruine. Es gab viel zu viel zu sehen.
Ich sah, wie die Landschaft mit jedem Höhenmeter an Statur, an Tiefe gewann, wie der Blick auf die Donau mehr Kontext erlaubte, die lange Schleife, die harmonische Biegung des Flusses bis hinüber nach Weißenkirchen, wo ich weit weg die wuchtige Wehrkirche erkennen konnte. Seine historische Stunde schlug der Burg Dürnstein im Jahr 1193, als der englische König Richard Löwenherz in der Nähe Wiens erkannt und festgenommen wurde.
Er blieb mehrere Monate in Dürnstein in Haft, bis er für die kolportierte Menge von 35 Tonnen Silber freigekauft wurde. Ich kletterte von Ebene zu Ebene der Reste dieser großen Zeit und genoss den strahlenden Tag und das Spiel der Farben, das der Herbst sich gerade im Wald und in den Weingärten leistete.
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Der lange Blick nach Dürnstein
Schließlich ließ ich die Plakatmotive der Wachau hinter mir und bog in den schmalen Weg ein, der Richtung Starhembergwarte und zur Fesslhütte führt, meinen ersten Zwischenzielen. Wald und Fels liefern sich hier ein Match um die bizarrste Form, den ungewöhnlichsten Anblick. Eichen und Kiefern teilen sich das Feld, und obwohl ich erst zwanzig Minuten von der Ruine entfernt war, herrschte hier heilige Ruhe.
Ich passierte die ehemalige Vorburg der Ruine, das „Schlösschen“, dann folgte ich dem ziemlich steilen Anstieg zum Schlossberg, der von der Starhembergwarte gekrönt wird. Dort herrschte wiederum etwas zu reger Andrang, ich stieg ab zur Fesslhütte, ließ die Rastmöglichkeit rechts liegen und folgte stattdessen dem unverkennbaren Signet des Welterbesteigs, der nun auf dem sogenannten „Höhenweg“ durch den lichten Wald führte und mir nur hie und da lange Blicke hinunter ins Tal erlaubte.
Den Abstecher zur Dürnsteiner Kanzel ließ ich mir nicht entgehen. Die zwanzig Bonusminuten war der Moment allemal wert. Links, zwischen zwei Hügelkuppen, der Blick hinunter nach Dürnstein. Rechts die Donauschleife nach Weißenkirchen, noch dramatischer und gewagter als vorhin vom Eselsteig aus. Zurück am Höhenweg, gelangte ich schließlich zum Weiler Schildhütten. Ein paar verstreute Häuser am Waldrand, das Leben hier stelle ich mir einsam vor.
Ein kleiner Heuriger namens Pomaßl hatte ausgesteckt, ich labte mich mit einem gespritzten Saft und bog in den letzten Abschnitt der heutigen Etappe ein.
Tiefblick zur Donau
Es dauerte nicht lange, bis ich am Geißberg wieder ans Licht kam und mit dem verwöhnt wurde, was die Experten Tiefblick nennen: Ich sah einen Schlepper stromaufwärts stampfen, den die Perspektive klein, fast niedlich aussehen ließ. Der Sound seiner Motoren klang größer als das Schiff selbst. Wie so oft in der Wachau veränderte sich die Landschaft unmittelbar darauf.
Schon fand ich mich in einer von Laubbäumen zersiedelten Felslandschaft wieder, die sich etwas später als „Naturdenkmal St. Michael“ erwies. Auf einer Lichtung, von der es hinunter nach St. Michael ging, warf ich den Rucksack ab und nahm auf einem Stein Platz, um einmal die enorme Vielfalt der Eindrücke zu sortieren. Im Vordergrund sah ich Felsabbrüche, die in jedem Gemälde von Caspar David Friedrich gute Figur machen würden.
Dahinter strömte in ihrem herbstlichen Graublau die Donau, während am anderen Ufer ein Fleckerlteppich aus Rieden leicht zum Gegenhang anstieg, der von dichtem Wald überwachsen war.
Ich nahm einen kleinen Imbiss und folgte etwas später erfrischt dem Höhenweg ins Mieslingtal. Schließlich, nach einer angenehmen Wanderung entlang des Mieslingbachs, kam ich beim Roten Tor an. Ich war entzückt, dass Spitz tatsächlich ein Rotes Tor zu bieten hat, den sagenhaften Rest seiner alten Verteidigungsanlagen.
Bisher hatte ich es nur auf dem Etikett der berühmten Hirtzberger-Veltliner gesehen. Ich sah mich um. Rund um mich eine Arena des Weins, ein bunter Kessel, wo, ja, tatsächlich noch so spät im Jahr ein paar Menschen damit beschäftigt waren, die überreifen Trauben zu lesen. Langsam spazierte ich den historischen Verbindungsweg hinunter zum Kirchplatz, stahl mir von einem besonders prächtigen Baum einen Apfel und bedauerte nur eines: dass ich schon am Ziel war.