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Wo die Erde brennt: Wandern über Belgiens Kohleberge

Reise

5 Min.

30.05.2022

Foto: SPW-Patrimoine-Fabrice Dor

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„Transterrilienne“ – das klingt irgendwie nach Outdoor-Abenteuer. Und das trifft auch zu, obwohl es in Belgien und in einem der am dichtesten besiedelten Landstriche Europas liegt. Journalistin und Buchautorin Françoise Hauser hat die weltweit einzige von Menschen erschaffene Bergkette erkundet und ist auf dem Sentier des Terrils einmal quer durch Wallonien gewandert.

Reportage: Françoise Hauser

Es qualmt und raucht, in der Luft hängt der dezente Hauch von Hölle: Heißer Schwefeldampf quillt aus dem Ritzen der Gesteinsmassen, hier und da ragen verkohlte Äste über den Weg. Unter meinen Füssen knirscht das schwarze Geröll. Die Risse mitten auf dem festgefahrenen Weg sind neu: Immer wieder bewegt sich das Erdreich, tun sich neue Spalten auf, rutschen ganze Hänge ab.

Und, nein, ich bin nicht in den Schwefelquellen von Java oder am Rande eines japanischen Vulkans – sondern in Belgien. Mittendrin in der dicht besiedelten Agglomeration Charleroi. Wie zum Beweis blitzen zwischen den Ästen immer wieder die grauen Betonfassaden der Wohnanlagen auf, trägt der Wind Kindergeschrei aus der naheliegenden Siedlung. Um es genau zu sagen: Ich bin auf dem „Terril des Hiercheuses“, einem gut 200 Meter hohen Berg aus Kohleschutt, wie es sie zu hunderten, nein!, tausenden in Süd-Belgien gibt – und die zusammen die Bergkette Transterrilienne bilden, wie sie hier und da durchaus ernsthaft genannt wird.


800 Jahre Bergbau

„Terril“, das ließe sich auch schlicht mit Abraumhalde übersetzen, was aber kein bisschen so aufregend klingt, wie es diese Berge verdienen. Überall, wo einst Steinkohle gefördert wurde, um die Stahlfabriken am Laufen zu halten, wurden die riesigen schwarzen Hügel aufgeworfen. Wie ein Band zieht sich die Transterrilienne durch Süd-Belgien – übrigens die einzige Bergkette weltweit, die vom Menschen erschaffen wurde und deshalb in keinem Atlas auftaucht.

Acht Jahrhunderte Arbeit stecken dahinter und der Abraum aus rund 12.000 Kohle-Schächten, verteilt auf mehr als tausend Terrils, von denen der höchste immerhin 364 m misst. Das brenzlige Detail: Vor allem die älteren Terrils enthalten noch bis zu zwanzig Prozent Kohle, die sich hin und wieder selbst entzündet. Auf bis zu 600°C erhitzen sie sich dann im Inneren, selbst an der Oberfläche kann es noch 40° C warm werden. Andere sind längst erloschen, entzünden sich aber temporär in heißen Sommern, wie es 2018 hier und da geschah.

„Gefahr - Betreten des Terrils strikt verboten“ heißt es oft bei den „heißen“ Bergen. Nicht immre halten sich die Spaziergänger daran


Idylle in der Industrielandschaft

Lange wurden die Terrils in Belgien ohnehin einfach ignoriert: Die Kohleindustrie stand für Arbeiterelend, Minenunglücke, Dreck und schließlich auch für Arbeitslosigkeit. Kein Erbe, auf das man stolz gewesen wäre. Von den heimlichen Veränderungen, die dort stattfanden, bekamen also nur die wenigsten Menschen etwas mit! Aus den dunklen Zuckerhüten, die überall aus den Städten und Dörfern ragen, wurden grüne Kegel mit einer einzigartigen Fauna und Flora – wilde, ungestörte Ecken inmitten Europas.

Selbst die inaktiven Halden locken heute aufgrund ihrer tiefschwarzen Farbe mit einem einzigartigen Biotop: Die dunklen Böden heizen sich schnell auf, sind extrem wasserdurchlässig und liegen dank ihrer Höhe jenseits aller Unkrautvernichtungsmittel, die in der Ebene für „Ordnung“ sorgen. Kein Wunder, dass Biologen beim Besuch der Terrils eher an Süditalien als an Belgien denken. Um die 500 Pflanzen- und rund 90 Vogelarten findet man hier mittlerweile, von denen viele in Wallonien eigentlich nicht heimisch sind.


Terrils-Wanderweg: Einmal quer durch Wallonien

In den letzten zehn Jahren freilich entstanden diverse Initiativen zum Erhalt und touristischen Ausbau dieser einzigartigen Naturwelt. Ihnen ist auch zu verdanken, dass man heute nicht unbedingt durch Zäune klettern oder Schwefel atmen muss, um sie zu entdecken. Zum Beispiel auf dem Wanderweg GR 412, dem fast 300 Kilometer langen „Sentier des Terrils“, der von Bernissart bis Blegny-Mine, vorbei an Charleroi und Namur, einmal quer durch Wallonien führt, vorbei an den größten Terrils und wichtigsten Minen. Die Nummer des GR 412 ist übrigens nicht beliebig gewählt: Sie bezieht sich auf den 4. Dezember, den Tag der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute.

Ich mache mich auf, den „Sentier des Terrils“, zumindest streckenweise, zu erobern und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus: Auf dem Terril St. Emmanuel nahe La Louvière flattert und zwitschert es wie in einem Nationalpark, während ich einsam am Gipfelsee entlanglaufe, der sich in einem Schlammbecken gebildet hat. Nur einen kurzen Spaziergang weiter liegt der Terril du Quesnoy, dessen gefühlt senkrechten Wände ich auf allen Vieren heraufkrieche und kleine Lawinen von Gesteinsbrocken auslöse, die mit beunruhigender Geschwindigkeit gen Tal vorbeihüpfen.

Gut, dass niemand hinter mir läuft – dafür schwebt wenig später ein Paraglider über meinen Kopf. Der Weitblick ist einmalig, am Horizont erhebt sich das größte Schiffshebewerk der Welt, der Ascenseur Strépy-Thieu, der die Schiffe des Canal du Centre mal kurz 73 Meter nach oben bringt.

Die Strecken zwischen den einzelnen Terrils sind gesäumt von den typischen roten Backsteinhäusern Walloniens, hier und da trifft man auch erstaunlich idyllische Dorfplätze und kleine Gutshöfe, aber auch viele Industriebrachen an. Ein Faible für verlassene Fabriken und Industrieruinen schadet auf diesem Weg nicht. Zwischen Couillet und Bouioulx im Osten Charlerois erklimme ich den Gipfel des Terril du Boubier, dessen Steilhänge noch nicht überall durch Wege erschlossen sind. Ich muss mich geradewegs in die Erde krallen und werde mit weiten Aussichten über die Industriegebiete an der Sambre belohnt, wie man sie im sonst eher flachen Belgien nur selten bekommt. Während ich den Terril umrunde, löst sich auch das Rätsel der Reifenspuren, die den Terril durchkreuzen: Eine ganze Gruppe Mountainbiker rast an mir vorbei in Richtung Ebene, während die Kohlestückchen nur so davon spritzen.

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Das Sahnestück zum Schluss

Gut 14 Tage kann man so bis an den westlichen Endpunkt der Mine Blegny wandern. Kurz davor weiche ich vom Weg ab und besuche in Tilleur nahe Lüttich den Terril Malgarny. Anfang der 1950er ließ die Gemeindeverwaltung Tilleur auf dem aktiven Terril Wohnungen für italienische Bergarbeiter errichten – und musste hilflos mit ansehen, wie die Anlage wenige Monate später in Flammen aufging. Heute, mehr als 50 Jahre später, brennt Malgarny noch immer. Ingenieure wollen die Wärme des Terrils für eine ganz neue Heizmethode nutzen, hieße es eine Zeit lang bei den Anrainern. Allerdings ist dies eher unwahrscheinlich, denn der Terril de Malgarny steht längst unter Naturschutz – und dampft in Ruhe weiter.

Das Zuckerstückchen, weil einfach und wunderbar aufbereitet, ist nur noch eine halbe Stunde zu Fuß entfernt (und am GR 412): Es ist der Terril du Gosson in St. Nicolas. In jahrelanger Arbeit wurde das Gelände durch das EU-Projekt „Pays des Terrils“, wie viele andere Kohleberge, zugänglich gemacht und in einen Wanderpark samt Museum verwandelt. Bei jedem Schritt erhebt sich vor meinen Füßen eine bläuliche Welle von Blauflügelheuschrecken, es flattert und zwitschert wie in einem Nationalpark.

Dann, von oben der Blick über das Maas-Tal. Über die gigantischen ehemaligen Stahlgießereien von Cockerill-Sambre bis zu den Hochöfen und all die Vororte des Ballungsraums Lüttich. Atemberaubend. Zwischendrin ragen die schwarz-grünen Kegel der Terrils aus der Ebene. Welche davon brennen lässt sich im Winter übrigens ganz einfach feststellen: Es sind die, auf denen der Schnee nie liegen bleibt.


Infos und Adressen: „Sentier des Terrils“, Wallonien, Belgien

Anreise: Per ICE (Thalys) ab Köln nach Lüttich (Liège), ab dort eventuell weiter mit dem normalen Zug nach Charleroi.

Alle Wanderwege Belgiens gibt es zudem unter: www.balnam.be

Museum: Das erste Terril-Museum Belgiens steht in St. Nicolas nahe Lüttich, rund 45 Autominuten von der deutschen Grenze entfernt. Im ehemaligen Waschhaus der Zeche ist nicht nur eine permanente Ausstellung untergebracht, die die Geschichte der Terrils erläutert, das Museum ist auch der Ausgangspunkt des „Wanderparks“ über den benachbarten Terril du Gosson.


Zur Autorin

Eigentlich ist die Journalistin Francoise Hauser meist in Asien unterwegs. In punkto Exotik und Abenteuer schneidet Belgien in ihren Augen allerdings auch gut ab. Sie hat mehrere Reisebücher verfasst, zuletzt etwa: In 80 Fettnäpfchen um die Welt: Der Knigge für Weitgereiste, National Geographic Taschenbuch, 208 Seiten, 14 Euro.