Bergwelten am Großvenediger
Der Nebel hat uns längst verschlungen. Wir stapfen durch schweres Grau, ohne erkennbaren Anhaltspunkt, ohne Orientierung. Wo der Himmel aufhört und der Schnee beginnt, wissen wir schon seit Stunden nicht mehr. Der Großvenediger zeigt sich uns von einer bitterkalten Seite.
Wir sind Teil einer Jubiläums-Seilschaft, die mit der Besteigung des Großvenedigers (3.667 m) im Nationalpark Hohe Tauern jenen Pionieren gedenken möchte, die vor 175 Jahren, am 3. September 1841, in einer 26-Mann starken Expedition erstmals den vergletscherten Gipfel des fünfthöchsten Bergs Österreichs erreicht haben. Der Großvenediger mag technisch kein anspruchsvoller Berg sein, aber er hat seine Tücken: Dauer und Höhe der Tour setzen Kondition und Durchhaltevermögen voraus, Wind und Wetter machen die Bergtour im Zweifel zu einem durchaus anspruchsvollen Unterfangen. Das mag auch erklären, warum der Großvenediger erst 40 Jahre nach dem Großglockner bezwungen werden konnte.
Unsere Nacht endet früh. Um 04:00 Uhr morgens zwingt uns ein Klingel-Konzert von Weckern im Bettenlager der Kürsinger Hütte aus den wohligen Daunendecken. 45 Minuten später stehen wir abmarschbereit in der kobaltblau gefärbten Nacht vor der Hütte. Die Prognosen der Wetterberichte hätten für unsere Tour nicht widersprüchlicher ausfallen können. Wir sind für alle Eventualitäten gerüstet. Noch wissen wir nicht, dass wir aufgrund der Wetterverhältnisse und schlechten Verfassung einiger Kameraden über 10 Stunden am Berg unterwegs sein werden.
Als wir den Fuß des Gletschers erreichen, mischt sich allmählich erstes Tageslicht in die Dunkelheit. Seilschaften bilden sich. Ab sofort sind wir in überschaubaren Grüppchen untrennbar durch ein Seil miteinander verbunden. Als einzige Wienerin unter den Gipfelaspiranten kann ich mich eines Gedanken an jene drei Wiener nicht erwehren, die vor 175 Jahren Teil der Erstbesteiger-Expedition waren – und nicht weniger als eine „nationale Angelegenheit des Oberpinzgaues“ ausgelöst hatten.
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Eine nationale Angelegenheit
Die Erstbesteigung des Großvenedigers wollte sich das Oberpinzgau nicht wegnehmen lassen, schon gar nicht von drei Wienern! Es sollten „Söhne unseres Tales“ sein, die den Gipfel erstmals erklimmen würden. Dem Aufruf wurde Folge geleistet, die drei Wiener standen trotzdem auch mit auf dem Gipfel. Nachsatz: Obwohl ein Gutteil der Expedition auf halbem Weg aufgegeben und abgebrochen hat.
Als wir die Scharte erreichen, können wir verstehen, was einen so knapp unterhalb des Gipfels noch zum Abbruch bewegen kann. Der Sturm nimmt zu. Am exponierten Kamm kämpfen wir mit Böen von bis zu 100 km/h. Unsere Wimpern sind gefroren, die Nasenlöcher vereist, der Graupel peitscht uns gnadenlos ins Gesicht.
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Immer wieder einmal drängt sich kurz die Sonne durch den Nebel hindurch und gibt den Blick frei auf den in Wind und Eis gekleideten Gipfel des Großvenedigers – bis wir schließlich ganz oben stehen. Für einen Gipfelschnaps ist uns zwar zu kalt, Umarmungen und Fotos lassen wir uns hingegen nicht nehmen.
Kaum dass wir festgestellt haben, dass man vom Gipfel des Großvenedigers natürlich nicht bis nach Venedig blicken kann, versinkt die Sonne auch schon wieder in der trüben Nebelsuppe und wir treten den Rückweg über den Gletscher zur Hütte an.
Ich verliere das Zeitgefühl gänzlich, weiß nicht mehr, ob wir nun bereits drei Stunden oder erst zwanzig Minuten durch den Schnee stapfen. Das Wetter verstellt uns den Blick auf alles, was uns als Anhaltspunkt für eine Lokalisierung hätte dienen können. Aber die Berge sind eben nicht nur Sonnenschein und strahlend blauer Himmel.
Die Widrigkeiten der Naturgewalten fordern ein umso klareres Bekenntnis, denn Leidenschaft endet nicht, wo ideale Bedingungen fehlen. Im Gegenteil. Die Zeit schrumpft auf jeden einzelnen stur gesetzten Schritt zusammen, es gibt kein Außen und kein Innen mehr – nur das Gehen zurück in die Zivilisation. Und ich glaube, das war vor 175 Jahren nicht anders.