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Am Ende und Anfang des Colorado Rivers

Aktuelles

5 Min.

29.05.2019

Foto: Ana Zirner

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Ana Zirner folgt dem Colorado River – 2.330 km, von seinem Ursprung in den Rocky Mountains bis zum Golf von Kalifornien. An der Grenze zu Mexiko muss sie sich von ihrem liebgewonnenen Begleiter, dem Fluss, verabschieden. Und doch entspringt er an seinem von Menschenhand verwüsteten Ende auf wundersame Weise neu.

Völlig unvermittelt schießen mir Tränen in die Augen. Das kann nicht sein, nein, das kann einfach nicht sein, sage ich immer wieder laut zu mir selbst. Ich sitze wie gelähmt in meinem Packraft, und schaue über die flache Staumauer am Imperial Dam hinunter zu dem zwei Meter breiten schmutzigen Rinnsal, das bald im dichten Schilf verschwindet. Das sind also die Überreste des majestätischen Colorado River? Wirklich? Langsam sickert die Erkenntnis in mein Bewusstsein, und ich sitze einfach da und weine. Ich kann nicht anders und es ist mir völlig egal, wer mich hier so sieht. Mein Fluss, denke ich immer wieder. Mein Freund, mein großer Lehrer, mein Begleiter! Ich merke in diesem Moment ganz deutlich, wie eng ich mich nach fast drei Monaten dem Colorado River verbunden fühle, wie sehr er für mich nun einem lebendigen Wesen gleicht. Zu sehen, was hier mit dem Fluss passiert ist für mich daher wirklich brutal und schmerzhaft. 

Ich habe immer gewusst, dass dieser Moment kommen wird, aber ich habe hier am Imperial Dam noch nicht damit gerechnet. Man hatte mir gesagt, dass der Colorado River sich erst am Morelos Dam, direkt an der mexikanischen Grenze, ein paar Meilen weiter südlich, verliert. Der Imperial Dam ist ein reiner Umleitungsdamm, es wird also keine Energie erzeugt. Hier wird der Großteil des Wassers aus dem Fluss in die Bewässerungskanäle links und rechts geleitet, welche die endlosen Landwirtschafts-Flächen mitten in der Wüste versorgen. Links geht das Wasser nach Arizona, rechts durch den „All American Canal“ nach Kalifornien und ins Imperial Valley, auch „Salatschüssel der USA“ genannt. Immer noch benommen von dem Erlebnis gehe ich zum vereinbarten Treffen mit einem der Dammbetreiber. Ich höre kaum zu, was er sagt und meine Fragen sind ziellos. Aber er spricht einen Satz, der mich aufhorchen lässt: Alles Wasser, das von hier aus weiter stromabwärts fließt, sei „lost“. Verloren! Mir zieht es schmerzhaft den Magen zusammen. In Mexiko kommen maximal noch 10 Prozent des Wassers aus dem Colorado River an.


Wo der Fluss verschwindet

Wie der Fluss habe ich plötzlich all meine Kraft verloren. Ich brauche einige Tage bis ich bereit bin, meinen Weg fortzusetzen. Es liegen nur noch 145 Kilometer vor mir bis zum Meer, aber es sind wohl die schwierigsten dieser ganzen Reise. Zunächst sind da einige recht aufregende Kilometer im US-mexikanischen Grenzgebiet und eine Strecke entlang des furchterregenden Grenzzauns der USA. Aber die größte Herausforderung bilden Schilf, Schlamm, Müll und Hitze, die mir zeitweilig wirklich den Rest geben.

Und doch ist meine letzte Etappe auf dieser Reise von Hoffnung und vielen starken Begegnungen geprägt. Denn ich lerne die Menschen hinter den Nichtregierungsorganisationen Pronatura und Sonoran Institute kennen und habe sogar die Möglichkeit mitzuhelfen, als wir in einem kleinen staubigen Dorf eine ganze Menge Bäume pflanzen. Ziel ist es, das Delta des Colorado Rivers wiederzubeleben. Denn einst war hier Nordamerikas größtes Feuchtgebiet und die 8.547 Quadratkilometer große Fläche war Heimat für Jaguare und zahllose andere Tiere, von denen viele heute vom Aussterben bedroht sind. Die Oase war auch ein wichtiger Rastplatz für Zugvögel auf dem Weg durch die sonst karge Wüstenlandschaft. Nicht zuletzt lebten hier die meisten Menschen vom Fischfang, und die Kultur des indigenen Cucapá-Stamms blieb hier viel länger als an vielen anderen Orten fast unbeeinflusst.

Aber seit im Jahr 1966 der Glen Canyon Dam (nördlich des Grand Canyon) fertiggestellt wurde, hat der Colorado River kaum je das Meer erreicht und somit ist sein Delta, das zum größten Teil in Mexiko liegt, immer mehr ausgestorben und vertrocknet. Aber jetzt gibt es Bemühungen, den Fluss zurückzubringen. Seit 2014 haben die Initiativen auch viel mehr Rückhalt in der lokalen Gesellschaft, denn damals wurde ein sogenannter „Pulse Flow“ durch das vertrocknete Flussbett geschickt. Eine Wassermasse, die 52.000 Olympische Schwimmbecken hätten füllen können, begann ihren über 90 Meilen langen Weg zum Meer und ein kleiner Teil davon erreichte es nach acht Wochen auch tatsächlich. Auf seinem Weg brachte das Wasser das Leben zurück. Die Menschen entdeckten in dieser Zeit „ihren“ Fluss neu und erkannten seinen Wert. Plötzlich war da Wasser in der Wüste, eine riesige Belebung, nicht nur für die Anwohner, sondern auch für die Tiere und Pflanzen. Die positiven Auswirkungen waren massiv und zeigten sich beispielsweise darin, dass man im Jahr des Pulse Flows 20% mehr Vögel zählte und ihre Vielfalt um 42% zunahm. Auch wenn die Zahlen seitdem wieder rückläufig sind, so gab es 2016 trotzdem insgesamt noch 75% mehr Vögel im Delta als 2013.


Wenn das Wasser zurückkehrt

All diese Zahlen bekräftigen ein starkes Gefühl, das ich in mir trage. Meine prägendste Erkenntnis dieser Reise lautet: Wasser ist kostbar. Und auch wenn wir derzeit in unseren Breiten gefühlt „unendlich“ viel Wasser haben, so glaube ich doch, dass uns ein bewusster Umgang mit unserem Wasser jetzt dabei helfen kann, die Fehler, die anderswo gemacht wurden, in unserer Zukunft zu vermeiden. Denn Wasser wird voraussichtlich mit dem Klimawandel auch bei uns knapper werden. Und Wasser ist nicht nur lebenswichtig und trägt maßgeblich zu einer hohen Lebensqualität bei, es ist auf ganz immaterieller Ebene ein unendlich vielseitiges, wichtiges und starkes Element.

Ich möchte meinen Bericht mit einer Geschichte abschließen. Erzählt wurde sie mir von Antonia, einer der letzten Frauen des hier ansässigen indigenen Cucapá-Stamms, die noch die alte Sprache spricht. Mich hat die Begegnung mit dieser weisen und dabei sehr lustigen Frau tief berührt. Und gerade hier, am Ende meiner langen Reise, gefällt mir die Vorstellung, dass der Colorado River gar nicht in den Bergen entsprungen ist, sondern sich hier im Delta geformt und einst von hier aus das Land gefüllt hat...

In der Nähe von San Felipe lebte die große heilige Schlange Jalkchach im Meer. Sie hatte sehr große Hoden, von denen einer rot und einer blau war. Und da lebte auch ein frecher Cucapá-Junge, der immer hingehen wollte, um das Tier zu sehen. Eines Tages entschied er, mit seinem Pfeil und Bogen die Schlange zu töten. Er sagte seiner Tante, die der Wi Shpa Berg war, dass er jagen gehe. Er ging hin, zusammen mit seinem gefleckten Hund Jatniur und sah die Schlange am Strand liegen. Er spannte seinen Bogen und schoss in den roten Hoden. Das rote Wasser schoss heraus und formte den Colorado River. Und als er in den blauen Hoden schoss, da formten sich die Meere ringsum. Aber die heilige Schlange hatte unfassbare Schmerzen, raste vor Wut und bäumte sich auf zu einem wahren Ungeheuer aus Wasser. Sie jagte dem Jungen hinterher, der zu seiner Tante, dem Berg, rannte. Als das Ungeheuer immer näher kam, tötete der Junge seinen Hund, und warf ihn hinter sich um das Wasser aufzuhalten. Der Hund wurde zu dem Cerro de las Pintas (Pintas Berg). Und der Junge rannte und rannte und rief nach seiner Tante, dem Berg, um Hilfe. Sie sah ihn kommen und sah, dass das Ungeheuer ihn jagte und sie nahm aus ihrem Ohr den Schmalz und formte damit eine große Kugel. Sie warf die Kugel und traf das Ungeheuer im Nacken und zerbarst seinen Kopf. Die Körperteile flogen weit und wo der Kopf landete, da bildete sich der Cerro Prieto (Preto Berg), und wo der Körper landete, da bildete sich der Cerro de la Ballena (Ballena Berg). So entstanden das Meer und der Colorado River. 

Wer einen Eindruck von Antonia bekommen möchte, kann sich hier ein Video ansehen in dem sie eben diese Geschichte erzählt (Spanisch mit Englischen Untertiteln).

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