Andrea Latritsch-Karlbauer: „Gehen macht glücklich"
Foto: Latritsch-Karlbauer/ Goldegg Verlag
von Martin Foszczynski
Es ist eigentlich kinderleicht, aber gleichzeitig auch eine Wissenschaft für sich: Das Gehen. Besonders viel gegangen ist in seinem Leben schon Weitwanderer Ernst Merkinger. Warum ihm das so gut tut, was mit ihm dabei mental und physisch passiert und wie jede/r Einzelne von uns durchs Gehen glücklicher werden kann, hat er die „Geh-Forscherin“ und Buch-Autorin Andrea Latritsch-Karlbauer gefragt.
Ernst Merkinger: Sitzen soll das neue Rauchen sein, manche meinen sogar, dass wir uns „zu Tode sitzen“. Forscher wollen berechnet haben, dass täglich 3 Stunden vor dem Computer die Lebenserwartung um bis zu zwei Jahre verkürzt. Welche Übungen würden Sie zuhause Arbeitenden für Zwischendurch empfehlen?
Andrea Latritsch-Karlbauer: Tatsächlich haben sich die Sitzzeiten im digitalen Zeitalter empfindlich erhöht – umso wichtiger ist es, bewusst ein paar kleine Geh-Einheiten zu absolvieren, um erfrischt und aufgelockert weiterarbeiten zu können. Ich empfehle hier eine Reise in die Steinzeit. Wir stellen uns breit hin, lassen uns mit einem Seufzer in die Knie fallen, und gehen wie ein Steinzeitmensch mit stampfenden Schritten und hängenden Armen durch den Raum, stimmlich begleiten wir dies mit : „Pu, pu, pu“. Danach stellen wir uns aufrecht hin und spüren den Energieschub im ganzen Körper.
Man könnte mal den Duden kontaktieren, um eine Änderung der Schreibweise des Wortes „Gesundheit" in „Geh-sundheit“ anzuregen. Das Gehen und die Gesundheit haben ja durchaus etwas miteinander zu tun – immerhin stellen wir uns auch täglich die Frage: „Wie geht es dir?“
Die Tätigkeit des Gehens erzählt, wie es uns geht. Fühlen wir uns wohl, dann gehen wir dynamisch und aufgerichtet. Wir haben ein stabiles Fundament. Sind wir jedoch verunsichert, verlassen wir mit den Füßen den Boden. Wir kippen zur Seite, heben mit den Fersen vom Boden ab, wackeln mit den Knien. Das erschwert jede Situation, deshalb sollten wir unbedingt darauf achten, mit den Füßen am Boden zu bleiben, denn das unterstützt die innere Balance und Konzentrationsfähigkeit.
Sie sind Regisseurin, Kulturmanagerin, Autorin, Trainerin, Vortragsrednerin für Haltung und authentische Kommunikation… Nachdem ich Ihr Buch „Wer geht gewinnt – wie Ihr Gehen Ihr Handeln bestimmt“ begeistert gelesen habe, würde ich Sie in erster Linie als „Gehfessorin“ betiteln. Können Sie genauer erläutern, was es mit dem großen Versprechen Ihres Buchtitels auf sich hat?
Die Sache ist ganz klar: Wir können im bewussten Gehen unsere entspannte Grundpersönlichkeit stärken oder zurückerobern. Mit unseren Schritten erzählen wir die Geschichte einer selbstbestimmten Person, die weiß was sie will, nach innen und nach außen.
Sie haben sich, wie gerade erwähnt, auf Haltung und authentische Kommunikation spezialisiert. Wie kann ich mir das vorstellen? Machen Sie sich mit ihren Klienten wieder auf die Suche nach einem festen Tritt?
Ich bin ja seit vielen Jahren in Firmen, Krankenhäusern, Schulen und Universitäten tätig und zeige den Menschen, wie sie über die Körperressource „Gehen“ Körper, Gehirn und Psyche positiv anregen können und so in eine authentische und ausbalancierte Grundhaltung kommen.
In meinem AnLaKa-Training erkenne ich bereits nach zwei, drei Schritten, wie der jeweilige Teilnehmer über sich denkt und seine Projekte umsetzt. Ist er/sie ein schneller Entscheider? Ist er im Zweifel? Zieht er ein Projekt bis zum Schluss durch oder hinterfragt er seine/ihre Schritte? Und steht er zu seinen Entscheidungen, oder fällt er bei der ersten Kritik um? Das alles zeigen die Füße und der Gang. Dieses Wissen um die eigene Gangart ist für Menschen im Berufsleben besonders wichtig, da dies jede Situation mitbeeinflusst. Wenn wir den Körper mit speziellen Übungen in eine neutrale Grundposition bringen, entspannen wir uns und gleichzeitig wird das Selbstbewusstsein gestärkt. Das passiert im Gehen und funktioniert augenblicklich. Da kommt die Körpererinnerung ins Spiel.
Gehen kann auch ein politisches Statement beinhalten, man denke an das Protestwandern von Mahatma Gandhi in den 1930er Jahren, um gegen die Besteuerung des Grundnahrungsmittels Salz durch die britische Regierung zu protestieren. Es kann zur inneren Einkehr dienen (Kinhin-Gehmeditation) oder auch dazu, Inspiration in der Natur aufzusuchen (Autoren wie Thomas Bernhard). Kann man sagen, dass das Gehen die Welt verändert?
Ja, absolut. Bereits die Peripatetiker (Anhänger der Lehre des Aristoteles, Anm.) im alten Griechenland gingen, um nachzudenken. Viele Philosophen und Autoren waren große Geher, von Friedrich Nietzsche bis Thomas Bernhard, und gingen weite Wege, um ihre Ideen zu entwickeln. Im Gehen kommen die Gedanken in Fluss und im Stehen werden sie konkretisiert – eine wunderbare Möglichkeit, um Haltung zu zeigen und kreative Projekte zu entwickeln. Ich schlage vielen Führungsteams vor, statt Sitzungen „Gehungen“ zu machen. Da kommt man viel schneller auf den Punkt und verschwendet keine unnötige Zeit.
Gehen wir eigentlich wirklich mit unseren Beinen oder mit unserem Kopf?
Die meisten Menschen sind „Kopfgeher“. Man könnte diesen Gangstil mit einem Skispringer kurz vor dem Absprung vergleichen und er deutet auf Stress hin. Bereits am Anfang meiner Seminare führe ich mit den TeilnehmerInnen einen kleinen Selbst-Test durch, den Sie auch gerne ausprobieren können. Stellen Sie sich in Hüftbreite hin und machen Sie einen Schritt nach vorne. Achten Sie darauf, welcher Bereich des Körpers nach vorne zieht. Sind es die Knie, die Hüfte, der Brustkorb, die Schultern, der Hals, der Kopf oder die Füße?
Wenn Sie bemerken, dass der erste Impuls aus dem Bereich oberhalb der Gürtellinie kommt, dann ist das ein sicheres Indiz für Stress. Bevor sie überhaupt losgehen, signalisiert ihr Gang ihrem Gehirn, dass sie unter Druck stehen und dementsprechend sieht auch Ihre Handlungsweise im täglichen Leben aus. Sie spüren nicht mehr, wann es genug ist, wann Sie Ruhepausen benötigen und können Ihre Gedanken schwer abschalten. Wenn Sie das bemerken, gehen Sie los! Der Fuß zuerst, der Körper folgt. Das entspannt.
Gehen ist kinderleicht. Mit drei Jahren sind wir ziemlich trittsicher unterwegs. Kommen wir durch das Gehen vielleicht auch wieder mit unserem inneren Kind in Berührung und tut es uns deswegen so gut?
Ja, ganz sicher. Wir gehen bereits im Mutterleib. In dem Moment, wo die Füßchen des Babys ausgebildet sind, suchen sie sich Untergrund, was ihnen ein Gefühl der Sicherheit gibt.
Wenn Kleinkinder das Gehen erlernen, lächeln sie zufrieden, da ihnen der Kontakt der Füße zur Erde Sicherheit vermittelt. Im Laufe des Lebens werden wir leider wieder wackelig und so können wir das Gehen nutzen, um wieder unser inneres Kind wiederzubeleben. Es ist erwiesen, dass Menschen, die gesund alt werden, gerne gehen, viel lachen und bis zum Schluss neugierig bleiben.
Warum glauben Sie, erfährt das Weitwandern zurzeit so einen Hype?
Ich bin davon überzeugt, dass dieser Trend, den Menschen ruhige Gedanken beschert und ihnen die Möglichkeit bietet, sich selbst zu begegnen. Das ist so wichtig in unserer lauten, schnelllebigen Zeit, wo es kaum noch Minuten oder Stunden der Muße gibt. Jede freie Sekunde wird dem Hantieren mit Handys und Computern gewidmet. Unsere Gedankengänge werden ständig unterbrochen und wir werden immer zerstreuter. Im Weitwandern all dies keine Relevanz mehr und wir gehen mit uns selbst spazieren, schärfen unsere Sinne und entspannen unsere Seele in der Natur. Das macht glücklich.
Was macht es mit unserer Psyche, wenn man fünf bis acht Tage wandern geht?
Die mentale und körperliche Gesundheit wird gestärkt, die Sinne werden angeregt. Darüber hinaus erhalten unsere Organe eine wunderbare Dauermassage, da ja die Fußsohlen mit sämtlichen Organen in Verbindung stehen. Die Lebenskraft und Humorfähigkeit werden wiedererweckt, wir lachen ausgiebig, fühlen uns lebendig und strahlen dies auch aus.
In diesem Moment wird die Digitalisierung irrelevant. Langes Gehen ist wie ein nach Hause kommen, mit der Erkenntnis, dass Gehen in der Natur glücklich macht.
Kann man im Gehen, also in der Bewegung, auch zur Ruhe kommen?
Gehen ist wie Meditation. Wenn man während der Wanderung bewusste Schritte macht, mit der Ferse beginnt und über den Vorfuß weiter über die Zehen abrollt, dann ist das eine wunderbare Entspannung, die sich auf den ganzen Körper überträgt. Sie können auch die Gehrhythmen ändern – langsam – schnell – normal, mehrmals im Wechsel. Der Körper nimmt danach automatisch die Geschwindigkeit ein, die uns im Moment guttut. Die Gedanken werden ruhig, das Gesicht entspannt sich, ein Lächeln breitet sich aus und wir werden ruhig. Das ist ein Gefühl, das mit keinem Geld der Welt zu bezahlen ist.
Buch-Tipp
Andrea Latritsch-Karlbauer: Wer geht gewinnt. Wie Ihr Gehen Ihr Handeln bestimmt, Goldegg Verlag, 192 Seiten.
Ernst Merkinger ist bereits von Wien nach Marrakesch und über den Alpe-Adria-Trail gegangen. Vergangenen Sommer hat er 8 der schönsten Weitwanderwege im Alpenraum bestritten. Im aktuellen Bergwelten Magazin (April/Mai 2020) findet sich dazu ein 14-seitiges Weitwander-Special mit allen Wegen im Portrait („Bitte weiter gehen“). Es ist überall im Zeitschriftenhandel und bequem als E-Paper-Download erhältlich.
- Berg & Freizeit
Ernst wandert weit
- Berg & Freizeit
Endlich nach Santiago de Compostela
- Berg & Freizeit
Stephan Meurisch: „Ich geh dann mal nach Tibet“
- Berg & Freizeit
Sind 600.000 Mitglieder ein Druckmittel?
- Berg & Freizeit
Bilanz eines Jahres
- Berg & Freizeit
Projekt Hüttenübernahme: Familien-Angelegenheiten