Die Pilatus-Sage
Foto: Philipp Horak
Wie kam Pilatus aus Palästina in die Schweiz und warum ist ein Berg nach ihm benannt? Eine uralte Sage spannt den Bogen von der Antike in die Jetztzeit.
- Gebirge: Emmentaler Alpen/ Luzerner Voralpen
- Schauplätze: Luzern, Pilatus, Widderfeld
Vor langer Zeit erkrankte in Rom der mächtige Kaiser Tiberius an einem schweren Leiden und auch die geschicktesten griechischen Ärzte vermochten ihn nicht zu heilen. Da vernahm er, dass in Jerusalem ein Arzt sei, der alle Kranken gesund machen könne. Er schickte also seinen treuen Diener Alban nach Jerusalem. Aber Pilatus, der römische Landpfleger, erschrak und wollte nichts von einem solchen Arzte wissen, der eben Jesus von Nazareth war, den er vor kurzem hatte kreuzigen lassen. „Von diesem Wunderheiler habe ich gehört“, sprach er, „ich weiß aber nicht, wo er lebt.“
Inzwischen begegnete der Diener Alban einer Frau namens Veronika, die Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung ein Schweißtuch gereicht hatte. Sie erzählte ihm die Wahrheit und auch, dass das Tuch, in dem sich noch das Gesicht Jesu abzeichnete, imstande sei, Kranke zu heilen. Gemeinsam reisten sie nach Rom zurück und reichten das Tuch Tiberius, der es sich auflegte und tatsächlich gesundete. Die Freude darüber war groß, aber auch der Zorn auf Pontius Pilatus, den er nun nach Rom zitierte, um ihn zu bestrafen. Er verurteilte Pilatus zum Tod und ließ ihn in den Kerker werfen, wo er Selbstmord verübte.
Seine Leiche warfen die Römer in den Tiber, worauf das Wasser des Flusses ungenießbar wurde und sich auch nicht mehr zum Wässern der Felder eignete. Als auch noch Unwetter und Seuchen ausbrachen, holte man den Leichnam wieder aus dem Tiber. Man brachte ihn nach Frankreich und versenkte ihn bei Lyon in die Rhone – doch dort geschah das gleiche wie in Rom. Man fischte den Leichnam abermals hinaus und brachte ihn in die Bischofsstadt Lausanne im schweizerischen Waadtlande, wo man ihn begrub – doch die Erde wollte ihn nicht behalten und in der Nacht pfiffen Gewitter um die verängstigte Stadt.
Jetzt hatte man genug. Man packte den unruhigen Geist und trug ihn weit weg auf einen hohen Berg oberhalb von Luzern, den Fracmont, wo man ihn in einen kleinen Bergsee warf. Doch auf dem Berg, den die Leute nun Pilatusberg nannten, trieb es der böse Geist schrecklicher als jemals zuvor. Den See brachte er zum Überlaufen und von einer Felsspitze aus, der Güpfe, verhexte er das Wetter. Im Vorfrühling kämpfte er mit König Herodes in den Lüften und warf mit Lawinen nach ihm, die dann tosend zu Tal rasten. Die Menschen am Pilatus sahen ständig mit Schrecken auf den finsteren Berg hinauf, dessen Haupt fast immer in einer schwarzen Nebelkappe steckte.
Da kam einmal ein fahrender Schüler aus der unterirdischen Schule zu Salamanca in die Stadt Luzern. Er war ein in magischen Dingen erfahrener Gelehrter und bot an, das gespensternde Ungetüm für immer in den See zu verbannen. Er bestieg die höchste Spitze des Pilatusberges, das Mittagsgüpfi, und begann die Beschwörung – aber der böse Geist wich nicht, sondern brachte Seewasser in Wallung und rief Sturmwinde herbei, während die Felsen wankten.
Der fahrende Schüler aber gab nicht auf. Auf dem Widderfeld nahm er den Kampf abermals auf. Wie schrecklich es da zugegangen sein muss, zeigt heute noch der für immer und ewig versengte Rasen, auf dem kein grünes Gräslein mehr wächst. Unter den nicht nachlassenden Beschwörungen des Gelehrten wand sich der böse Geist immer stärker und brach schließlich zusammen.
Geschwächt willigt er in eine Bedingung des fahrenden Schülers ein: Er solle sich in den See verziehen, wo die Menschen ihn in Ruhe lassen würden. Einmal im Jahr, am Karfreitag, dürfe er den See für eine kleine Wanderung verlassen. Pilatus hielt sich an den Pakt. Mutige, die den Berg bestiegen, sahen ihn am Karfreitag am Ufer des Bergsees sitzen und beobachteten, wie er verzweifelt versuchte, seine mit Blut bespritzten Hände im Seewasser zu waschen.
(Quellen: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915; Felix Ruhl, Schweizer Bergsagen, Basel 2009)
Touren am Pilatus
Pilatus: Hausberg der Luzerner
Die Sage heute: Der Pilatus ist ein Massiv mit mehreren Spitzen wie dem Mittaggüpfi (1.917 m) und dem Widderfeld (2.075 m). Wegen dieser Form wurde der Berg früher mons fractus (gebrochener Berg) oder auch Fracmont genannt. Die schon in der Spätantike entstandene Pilatussage erfreute sich vor allem im Mittelalter großer Beliebtheit – 1475 wird der Berg in einem Dokument erstmals Pilatus genannt.
Die Sprachwissenschaft hat freilich eine weniger mythologische Erklärung für diese Umbenennung. So leite sich der Name des Bergs vom lateinischen pilleus ab, was Filzkappe bedeutet. Dazu passt, dass sich am Pilatus häufig Wolken zusammenballen, die für ergiebige Niederschläge sorgen. Aufgrund dieser Wolkenbrüche – vielleicht auch aus Furcht vor dem sagenhaften Pilatus – war das Besteigen des Bergs noch im 16. Jahrhundert durch den Stadtrat von Luzern verboten.
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