Sherpa Kale im Taschachhaus
Foto: Chris Walch/TVB Pitztal
von Christina Geyer
Wie uns eine geplatzte Gipfeltour nach Nepal führte – ohne dass wir Tirol dafür verlassen mussten.
Eigentlich wollten wir ja auf die Wildspitze (3.768 m) steigen. Sie ist nicht nur das Dach Tirols, sondern immerhin auch der zweithöchste Berg Österreichs. Hoch über Mandarfen im Pitztal, der letzten ernstzunehmenden Siedlung vor Talschluss, liegt sie, versteckt in einem wilden Seitental der Ostalpen zwischen Ötztal und Kaunertal. Aber, wie das oft so ist mit Plänen am Berg: Es kam anders als gedacht. Wieder machte uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung, wie bereits zwei Wochen zuvor bei der Jubliläumstour auf den Großvenediger (3.657 m). Anders als bei jener Tour, die aufgrund der widersprüchlichen Vorhersagen durchaus auf einen Wetterumschwung hoffen ließ, waren die Prognosen diesmal eindeutig: Besser wird's nicht.
Wir sind noch 600 Höhenmeter vom Gipfel der Wildspitze entfernt, als es zu regnen beginnt und im Westen dunkle Wolken aufziehen. Die Entscheidung fällt einstimmig – das wird heute nichts mehr mit dem Gipfel. „Ab ins Taschi!“, besiegelt Michl von der Bergführer-Vereinigung Pitztal den Beschluss. Also kehren wir um und steigen über den Taschachferner ab. Es folgen 2 Stunden klassisches Gletscher-Latschen, über Spalten, Brüche und Moränen. Dann sind wir angekommen, am „Taschi“, wie das Taschachhaus (2.434 m) liebevoll genannt wird.
Taschachhaus
Manch einer tröstet sich ob der gescheiterten Gipfeltour bereits um 11:00 mit einem Jagatee. Mittags braucht es dann schon keinen Alibi-Tee mehr, die ersten Bier werden bestellt – und von einem Nepalesen serviert. Sein Name ist Kale und er ist Teil vom „Sherpaprojekt“, einer von Bergsteiger Wolfgang Nairz ins Leben gerufenen Initiative. Kommenden Herbst fliegt Nairz, der 1978 die erste österreichische Expedition auf den Gipfel des Mount Everest führte, zum 90. Mal nach Nepal. Ja, dieser Mann hat sein Herz wirklich unwiderbringlich an das Land der 8.000er verloren.
Es verwundert darum nicht weiter, dass er die NepalHilfe Tirol gegründet und als Teil davon auch das „Sherpaprojekt“ initiiert hat. Während die NepalHilfe Tirol nach dem verheerenden Erdbeben von 2015 vor allem mit der Bereitstellung von Soforthilfe-Maßnahmen betraut war, sucht das „Sherpaprojekt“ die Lebensgrundlage nepalesischer Sherpas nachhaltig sicherzustellen. Derzeit sind knapp 30 Nepalesen auf 26 Hütten im Einsatz, um die Grundlagen der Hüttenbewirtschaftung zu erlernen. Mit den hier vermittelten Fertigkeiten sollen sie später in der Lage sein, eigene Lodges in Nepal zu führen.
„Da prallen nicht nur zwei Welten aufeinander, sondern gleich mehrere“, erzählt Hüttenwirt Christoph, der sich zu uns in die Stube gesellt hat. Woher auch soll Kale wissen, dass Elektrogeräte nicht in den Geschirrspüler gehören? Oder Kartoffeln auf der Ablage und nicht wie daheim in Nepal auf dem Boden geschält werden? Während seiner ersten Saison im Taschachhaus hat er noch kein Wort Englisch gesprochen. Mittlerweile kann er sich schon problemlos verständigen. Kale ist jetzt die vierte – und letzte – Saison hier oben. Das Projekt sieht eine maximale Laufzeit von vier Jahren pro Sherpa vor, um sicherzustellen, dass auch andere Nepalesen nachrücken und ihre Chance nutzen können.
Ein Lotto-6er
Und es ist eine große Chance, wie Kale bestätigt. Als er von seiner Heimat erzählt und der dort geschlossenen Bekanntschaft mit den Hüttenwirten Christoph und Barbara werden seine Augen glasig. Christoph ergreift noch einmal das Wort und führt aus: „In Nepal ist eine Saison auf der Hütte wie ein Lotto-6er. Hier verdient man in einem Sommer so viel wie ein Lehrer in Nepal in zwei Jahren.“ Kales Frau erwartet dieser Tage ihr zweites Kind. Kale wird es im Oktober zum ersten Mal sehen, wenn er die Heimreise aus Tirol antritt. Christoph wird ihn schmerzlich vermissen. Nicht nur, weil er eine unentbehrliche Stütze geworden ist, sondern auch ein Freund.
2010, als sich die beiden in Nepal kennenlernten, war Kale noch Träger, „ein dürres Manndl“, wie Christoph sagt. Er schaffte es zum Koch, dann zum Guide. Die Zeit im Taschachhaus, so hoffen alle, ebnet nun vielleicht auch in Nepal den Weg zur eigenen Lodge. Für Christoph und Barbara beginnt nächstes Jahr jedenfalls „alles wieder bei Null“. Aber auch das ist in Ordnung. „Natürlich geht es ohne Nepali“, sagt Christoph. „Aber es wäre definitiv nur halb so schön!“
Mittlerweile stehen dampfende Töpfe vor uns auf dem Tisch. Kale hat gekocht. Dhal, das typisch nepalesische Linsengericht, Curry und Reis. Und auf einmal ist es völlig in Ordnung, dass es mit dem Gipfel der Wildspitze nicht geklappt hat. Denn für einen Nachmittag sind wir plötzlich auf mentalem Kurzurlaub in Nepal. Und angesichts unserer geplatzten Gipfeltour ist das nun wirklich kein so schlechter Ausgang.
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