Tiefschnee-Rausch: Freiheit, Freiheit über alles?
Foto: mauritius images / Westend61 / Bela Raba
von Christina Geyer
Bergwelten Autorin Christina Geyer liebt die Berge und den Schnee. Jenen Schnee, der in den letzten Wochen den gesamten Alpenraum in Atem gehalten hat. Und vielerorts zu alpinen Unfällen führte, die vielleicht nicht passieren hätten müssen. Ein Text über Freiheit, Vernunft und den grenzenlosen Wahnsinn, der auf der Suche nach jungfräulichem Tiefschnee auftreten kann.
Weite Teile des Alpenraums versinken im Schnee. Zeitweise wurde die höchste Lawinenwarnstufe verhängt, viele Straßen sind nach wie vor gesperrt, einige Orte daher immer noch von der Außenwelt abgeschnitten. Trotz aller Warnungen kommt es beinahe täglich zu tragischen Zwischenfällen. Lawinenabgänge, verschüttete Personen, Totbergungen. Das hat den Tiroler Landtagsvizepräsident Toni Mattle, seines Zeichens auch stellvertretender Landesleiter der Tiroler Bergrettung, jüngst dazu veranlasst, laut über die Bestrafung von leichtsinnigen Wintersportlern zu sinnieren: „Wer sich über alle Warnungen hinwegsetzt und unsere ehrenamtlichen Einsatzkräfte damit in Gefahr bringt, für den habe ich kein Verständnis mehr. Wer in der jetzigen Schneesituation alle Hinweise missachtet und in abgesperrte Bereiche einfährt, der gehört wegen grober Fahrlässigkeit angeklagt und entsprechend bestraft“.
Wer will schon vernünftig sein?
Ignorantia legis non excusat. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht? Obwohl wir doch - gerade in den Bergen - so viel Wert auf unsere individuelle Freiheit legen? Sich grenzenlos fühlen, inmitten von unberührter Natur, das ist ein Gefühl, dem viele Wintersportler alles unterordnen. Dabei meint Freiheit zunächst einmal nur die Möglichkeit, ohne Zwang aus verschiedenen Optionen wählen zu können. Sie verweist dabei auf einen Zustand der Autonomie: Eine Person kann über sich selbst verfügen, ohne Fremdeinwirkung in Form von Geboten oder Verboten. Dieser Zustand ist der heilige Gral der liberalen Gesellschaftsordnung. Freiheit. Damit verbinden wir bis heute die Ideale der Aufklärung. Nur wer frei ist, so die einhellige Meinung, kann auch ein gutes Leben führen. Ja, das Mensch-Sein wird überhaupt erst möglich, wenn Freiheit als Grundbedingung gegeben ist. Die Aufklärung hat der Freiheit ihren goldenen Anstrich gegeben und sie hat von ihrem Glanz bis heute nichts verloren. Davon abgesehen hat sich unser Verständnis von Freiheit aber weitgehend von jenem der Aufklärung emanzipiert – und radikalisiert. Alles strebt der Freiheit entgegen, jeder will frei sein, ohne Abstriche machen zu müssen. Und nicht wenige scheinen unter Freiheit etwas Absolutes zu verstehen, etwas, das mit Grenzenlosigkeit und Lust zu tun hat.
Dabei wird gern vergessen, dass die Aufklärung ganz zentral vom Ideal der Vernunft getragen war. Vernünftig sein? Klingt nicht wirklich nach Freiheit. Würden wir spontan gefragt, was wir mit Freiheit assoziieren - Vernunft käme uns wohl überhaupt gar nicht erst in den Sinn. Viel eher schwärmen wir von einem unverspurten Steilhang, von Jauchzern und beherzten Schwüngen in hüfttiefem Pulverschnee. Der große Königsberger Philosoph Immanuel Kant, gewissermaßen der geistige Vater der Vernunft, hält Freiheit aber nur in Verbindung mit Vernunft überhaupt erst für möglich. Andernfalls handle der Mensch nicht frei, sondern nur aus Lust – und sei dabei nicht besser als ein Tier. „Instinktmäßig“, wie er schreibt, und von Trieben geleitet.
„Powder-Turns“: Im Olymp der Freiheit?
Natürlich bereiten die jungfräulichen „Powder-Turns“ Lust. Sie sind aber nicht Ausdruck von Freiheit. Im Gegenteil. Lust und Freiheit sind nicht dasselbe. Mit Kant gesprochen: Erst die Vernunft und das Pflichtbewusstsein ermöglichen echte Freiheit. Man muss Sorge tragen für seine Freiheit. Und man sollte sie nicht überstrapazieren. Man kann sie nämlich auch schnell verwirken. Womöglich schneller als einem lieb ist. Wenn man zum Beispiel ohne Orts- und Lawinenkenntnisse bei Lawinenwarnstufe 5 ins freie Gelände einfährt und dabei eine Lawine lostritt.
Wer den Kick der Grenzenlosigkeit braucht, um sich frei zu fühlen, will Freiheit in ihrer radikalsten Gewandung. Er will sie bedingungslos und absolut. Er will mit einer „Scheiß-Drauf“-Mentalität alle Grenzen sprengen. Und spielt dabei ein gefährliches Spiel. Denn der Pfand für absolute Freiheit ist meistens Leichtsinn. Wo Freiheit ohne Verantwortung strapaziert wird, herrscht Gefahrenzone. Der Tiefschneehang im steilen Gelände bei Lawinenwarnstufe 5? Wer seiner Verheißung nicht widerstehen kann und einfährt, schwingt vielleicht der Freiheit entgegen – aber mindestens gleichermaßen auch dem Risiko. Freiheit ohne Pflichtbewusstsein und Verantwortung kommt stets in gefährlicher Begleitung. Die Tischdame der radikalen Freiheit heißt Risiko.
Können heißt nicht Sollen
Wir können zwar frei entscheiden. Daraus folgt aber nicht, dass im Können bereits ein Imperativ des Sollens mitschwingt. Anders formuliert: Anzuerkennen, dass man frei ist - dass man also theoretisch eine ganze Menge Dinge tun kann -, heißt nicht, diese auch praktisch alle tun zu müssen.
Ja, freilich. Wir können in den gefährdeten Hang einfahren. Und ja, das Unterfangen könnte auch gutgehen. Aber: Nur weil nichts geschehen ist, heißt das nicht, dass man auch sicher unterwegs war. Wir müssen eine zentrale Frage beantworten, wenn wir unsere Freiheit im winterlichen Gelände bei großer Gefahrenlage in Anspruch nehmen: Ist das Risiko es wert? Wir können frei, also selbst, entscheiden. Frei sind wir aber auch dann, wenn wir uns gegen das Einfahren in den Hang entscheiden. Freiheit meint Entscheiden in seiner Gesamtheit. Das ist Freiheit im eigentlichen Sinne: dass wir wählen und entscheiden müssen. Nicht dass wir uns jeweils für die radikalste Form von Freiheit entscheiden und sie absolut gebrauchen – oder vielmehr: missbrauchen – müssen.
Sei frei und sei vernünftig!
Freiheit erschließt die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen. Man kann kluge Entscheidungen fällen, wohlüberlegt und von Vernunft getragen. Man kann aber gleichermaßen impulsive Entscheidungen fällen, leichtsinnig und von Lust getrieben. Wie man entscheidet, obliegt dem freien Subjekt. Noch einmal mit Kant gesprochen: Freiheit ist der Schlüssel zur Selbstbestimmung, verlangt aber - richtig genutzt - auch nach großer Verantwortung. Die Folgen unserer Entscheidungen müssen wir nicht berücksichtigen. Wir sollten aber. Zumindest dann, wenn wir noch länger in den Genuss kommen wollen, unsere Freiheit zu beanspruchen. Die Berge und der unverspurte Hang sind zu einem späteren Zeitpunkt auch noch da. Wenn die Bedingungen vielleicht besser sind. Und vor allem sicherer.
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