Vom Wert des Bergsteigens
Foto: mauritius images / Martin Kriner
von Christina Geyer
Wann „zählt“ eine Bergtour? Nur wenn sie alleine oder auch wenn sie mit einem Bergführer begangen wird? Über den Wert des Bergsteigens und die Entwicklung der moralischen Debatte im Alpinismus.
Worin besteht der Wert des Bergsteigens? Wann „zählt“ eine Tour: Nur wenn sie allein oder auch wenn sie mit einem Bergführer begangen wird? Diese Fragen treiben den Alpinismus seit über 100 Jahren um – die Antworten sind weitgehend dieselben geblieben. Nach wie vor hält sich (insbesondere in Expertenkreisen) die Überzeugung, wonach eine Tour nur dann zählt, wenn sie „führerlos“ begangen wird. Damit ist das Begehen einer Tour ohne Bergführer gemeint. Im Mittelpunkt dieses Unterfangens steht das Erreichen des Gipfels aus eigener Kraft. Nebst der körperlichen Eignung kommt eine weitere Komponente hinzu, die in der Unterscheidung von führerlosen zu geführten Touren entscheiden ist: Die geistige Eignung. Wer ohne Bergführer im Gebirge unterwegs ist, trägt die gesamte Verantwortung: Das betrifft sowohl die Wegfindung (Orientierung) als auch die Einschätzung bestehender Gefahren, etwa von Gletscherspalten oder Wetterumstürzen.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein war das Begehen von Bergen mit Bergführern eine Selbstverständlichkeit. Dafür brauchte sich niemand zu schämen – oder gar zu rechtfertigen. Im Gegenteil: Einen Bergführer an der Seite zu haben galt als zusätzliches Qualitätsmerkmal. Im führerlosen Bergsteigen sah man einen Verstoß gegen die „bergsteigerische Vernunft“: Warum sollte man auch ein Risiko eingehen, wenn ein Experte, also ein Bergführer, der Seilschaft einen zusätzlichen Sicherheitsvorsprung verschaffen konnte? Beinahe alle Erstbesteigungen in den Westalpen zeugen von diesem Zeitgeist: Es waren fast ausschließlich eifrige britische Hobby-Alpinisten, die gemeinsam mit einschlägigen Schweizer Bergführern einen Gipfel nach dem anderen kaperten.
Moralisch besetzt wurde die Debatte ums geführte Bergsteigen erst Ende des 19. Jahrhunderts. Es waren die Brüder Emil und Otto Zsigmondy, die eine neue Ära in der Geschichte des Alpinismus einläuteten. 1879 gelang ihnen die führerlose Erstbesteigung des als „unbezwingbar“ geltenden Feldkopfs (3.089 m) in den Zillertalen Alpen – und damit die erste nennenswerte führerlose Erstbesteigung in den Ostalpen. Heute kennt man den Berg daher unter dem Namen Zsigmondyspitze. Nur wenige Jahre später stürzte Emil Zsigmondy in Frankreich an der Meije-Südwand in den Tod.
Noch im selben Jahr erschien sein Buch „Die Gefahren der Alpen“ (1885), das auch heute noch zu den Klassikern der Alpinliteratur zählt. Radikal sind die Ausführungen im Kapitel „Über die Eignung zum Bergsteigen“: Sie dürfen als Anstoß einer zusehends von moralisierenden Überlegungen getriebenen Debatte um den Wert des Bergsteigens gelten. Zsigmondy fordert, dass jene, die einen Gipfel nicht „aus eigener Kraft“ erreichen können, „unten bleiben“ sollen. „Moralische Berechtigung“ hat eine Bergtour in seinen Augen überhaupt nur dann, wenn sie „selbstständig“ durchgeführt wird. Das geführte Bergsteigen setzt er mit einer „kindlichen Unbeholfenheit“ gleich – das „ethische Moment“ wird durch Zsigmondy erstmals über das „sportliche“ gestellt.
Emil Zsigmondy: Über die Eignung zum Bergsteigen
Daran anknüpfend stellte der Alpinist Franz Nieberl 1911 sehr treffend fest: „Manche schämen sich geradezu einzugestehen, dass sie eine Tour mit Führer unternommen haben und versuchen, in lächerlichen Redewendungen um diese Tatsache herumzukommen.“ Der Wert des Bergsteigens scheint nach wie vor dort am höchsten zu sein, wo dem Gebot zum führerlosen Bergsteigen gefolgt wird. Der Trend dazu muss aber auch infolge der infrastrukturellen Erleichterungen am Berg sowie der Verbreitung von alpinistischen Hilfsmitteln gesehen werden. Dazu zählen unter anderem die Erschließung durch Aufstiegshilfen, der Ausbau von markierten Wegen, die leichtere Verfügbarkeit von Büchern und Führerliteratur sowie die laufende Weiterentwicklung der Ausrüstung.
Auffällig ist, dass es (nach wie vor) vor allem Experten sind, die moralische Standards für Bergsteiger definieren. Freilich, könnte man nun entgegnen, immerhin wissen die ja auch, wovon sie sprechen. Zugleich stellt sich die Frage, ob überhaupt jemand dazu berechtigt ist, festzulegen, wer in den Bergen unterwegs sein darf – ohne verpönt zu werden und die Gipfel vermeintlich zu „entweihen“. Immerhin: dem Berg selbst dürfte das alles herzlich egal sein.
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