Wandern und Klettern auf Walisisch
Willkommen in der Grafschaft Pembroke im Südwesten von Wales. Unser Autor springt über bizarre Felsskulpturen, verzweifelt an konsonantenreichen Zungenbrechern und folgt der Mutter aller Wanderwege zu Drehorten von „Robin Hood“ und „Harry Potter“.
Text: Manfred Sax
Okay, Sam, gesichert!“, hört man den Ruf von oben. Sam zerrt kurz am Seil, löst einen Klemmkeil vom Hosenbund und tastet den Fuß von Dreamboat Annie ab.
Annie macht das nichts aus, sie ist eine Felswand. Wir sind in Porthclais, im Norden der walisischen Grafschaft Pembroke. Norden ist gleichbedeutend mit Sandstein, weiß Sam, „das heißt, die Löcher sind klein und scharf“. So was braucht schmale Klemmkeile und besondere Sorgfalt beim Mustern der Strukturen und Spalten. „Wird die Spalte halten? Sandstein ist etwas bissig, die Kante kann abbrechen“, erklärt Sam.
Dreamboat Annie, mit achtzehn Metern die längste von elf Routen der Grey Wall genannten Klippe, ist eine sichere Sache. „Die Linien folgen einer konkreten Struktur. Wichtig ist, bei Ebbe zu klettern, dann hast du Boden unter den Füßen. Außerdem raubt dir die Flut gut vier Meter Spaß.“
Sam klettert wie eine Spinne, er ist binnen einer Minute oben. „Klettern ist einfach, wenn du weißt, wie es geht“, sagt er.
Beliebt auf Bergwelten
Mit Jazz im Camper-Van
Sam Brown ist 28 Jahre alt und sieht dem jungen The-Who-Sänger Roger Daltrey ähnlich. „Das sagen viele“, lächelt er säuerlich, „aber David Bowies Visage wäre mir lieber.“ Er wuchs in Snowdonia in Nordwales auf und bildet die dritte Generation eines Bergsteiger-Clans. Der Großvater war passionierter Bergsteiger, der Vater auch. Nur hatte es Letzterer mit dem Sohn offenbar etwas eilig – „er trieb mich immer in die Berge und hatte zu hohe Erwartungen, da ging ich lieber fischen“. In die Berge verliebte er sich trotzdem bereits als Teenager, als er mit Freunden loszog. „Dann wurde bald ein Lifestyle daraus. Seither dreht sich alles ums Klettern.“
Seit einem Jahr lebt er in einem VW-Campingbus, zusammen mit Hündin Jazz, die so heißt, weil sie ihm bei einem Jazzfestival zugelaufen ist. Mit im Auto noch Kleidung, Zahnbürste, Kochutensilien, Decken, Matratze, Mountainbike und Surfboard. Das wär’s. „Ich habe es gern einfach. Auch wenn es manchmal, wenn es dauernd regnet und du weder Geld in der Tasche noch Treibstoff im Auto hast, schon depressiv werden kann.“
Heute nicht. Heute brach zu Tagesbeginn die Sonne durch, die Vorfreude auf die Klippen dominierte. Sam hatte die Nacht am Strand von Manorbier an der Südküste von Pembrokeshire verbracht. Nicht ganz zufällig steht dort auch unser Hotel, also hat er uns aufgelesen. Während der einstündigen Fahrt in den Norden nach Porthclais war er ganz Frohnatur, morgens um fünf hatte Manorbier Beach ein paar gute Surfwellen hergegeben, so ein Tag konnte nur gut werden. Schon während der Fahrt lernen wir den lokalen Charme kennen. Etwa eine Kreuzung mit drei Straßen, die laut Wegweiser alle nach Tenby führen. Oder St. Davids, Heimat des Waliser Schutzheiligen und dank der Kathedrale nebst 1.900 Einwohnern offiziell die kleinste Großstadt – „city“ – des Vereinigten Königreiches. „Der Ort daneben hat 2.500 Einwohner, ist aber ein Dorf“, erklärt Sam.
Die am westlichsten Zipfel von Wales gelegene Grafschaft ist eine sehr eigenständige Region. 120.000 Menschen wohnen hier, Englisch ist die offizielle Landessprache, aber in Pembrokeshire spricht der Großteil der Leute lieber „Welsh“. Die Worte kommen aus der Kehle, die Sprache strotzt vor Konsonanten, die Straßenschilder sagen „Gyrrwch yn!“, wenn sie „Sicher fahren!“ meinen.
Auch beliebt
Die Menschen sind generell zurückhaltend, aber extrem freundlich und hilfsbereit. Seit die Kohleindustrie in den
1980er-Jahren eingestellt wurde, ist Tourismus der größte Wirtschaftszweig – der vor allem an der Küste große Attraktionen bietet: eine üppige marine Tierwelt mit Robben, Delfinen und raren Seevögeln, abenteuerliche Kajaktouren, dazu unzählige feine Sandstrände in weitgehend unberührter Landschaft. Die ganze Küste ist Naturschutzgebiet.
Klippen, Sonne Meer
Nach Bezwingen von Dreamboat Annie wird, gleich nebenan, der Red Wall in Angriff genommen: wegen seiner schrägeren Lage „ein Klassiker für Anfänger“, sagt Brett, ein Tourguide aus dem benachbarten Fischerdorf Goodwick, und optisch aus der Umgebung ragend wegen des rotstichigen Sandsteins. Ein Hit für Geologen, die gern erzählen, dass Wales vor 290 Millionen Jahren auf Höhe des Äquators angesiedelt war und die Röte des Steins vom Sand aus der Sahara herrührt.
Laut Brett ist Sam einer der besten Klippenkletterer im Land, aber auch die Anfängerroute Red Wall macht ihm sichtlich Spaß. Er ist schnell und elegant unterwegs. So liebt er es. „Ich habe auch einmal die Eiger-Nordwand bestiegen“, erklärt er, „aber das ist was für Ausdauerkletterer. Das bin ich nicht. Ich bin kein Marathonmann, sondern ein Sprinter. Deshalb liebe ich es hier. Die Waliser Klippen sind cool. Was könnte cooler sein, als hier mit Freunden bei Sonne und Meer zu klettern und mit etwas Glück auch noch Robben zu sehen?“
Im Großen und Ganzen, meint Sam, sei Großbritannien für Bergfreunde zu vergessen, es sei denn, du stehst auf die winterlichen Schrecken des Eises und der Stürme von Ben Nevis im schottischen Hochland – mit 1.344 Meter der höchste Berg des Königreichs.
Aber Wales mit seinen malerischen Klippen entlang eines 2.700 Kilometer langen Küstenstreifens ist anders. Und Pembrokeshire ist etwas Besonderes und bewahrt seine Eigenarten. „Organisches Klettern, natürliche Linien entlang des Ozeans“, sagt Sam. „Es gibt strenge Regeln. Bolzen in die Klippen zu schlagen ist verboten. Kein Klettern, wo Vögel nisten, und das Wetter ist besser als im Rest des Königreichs.“
Mutter aller Wanderwege
Zudem kommt das Kletter-Dorado mit einem Bonus: Die Küste der Grafschaft Pembroke ist von einem durchgehenden Wanderpfad – dem 299 Kilometer langen Pembrokeshire Coast Path – gesäumt. Für eingefleischte „coast hikers“ die Mutter aller Wanderwege, unterbrochen nur von Traumstränden, die zum Baden und Surfen einladen.
Am Ende mit Traumstrand
Es braucht zwei Wochen, um die ganze Küste zu durchwandern. Nach den Klettereskapaden im Norden wählen wir ein paar Etappen im Süden von Pembrokeshire, die jeweils einen guten Tag beanspruchen. Eine völlig andere, vom Gestein diktierte Landschaft, deren Architekt weicher Kalkstein ist. Er gestattet der Brandung, Baumeister bizarrer Felsskulpturen zu werden, die heute Legende sind. Ein guter Startpunkt ist der Parkplatz
von St. Govan’s. Befahrbare Wege zur Küste sind rar, öffentlicher Transport inexistent. Der Pfad führt ostwärts wie westwärts durch weiche Graslandschaften, die meerseitig abrupt an wilden Klippen enden. Es ist kein Rätsel, warum der Huntsman’s Leap, der Jägersprung, ein die Klippe trennender und an seinem Meeresende knapp zwei Meter breiter und mehr als 40 Meter tiefer Schacht, so getauft wurde. Der Legende nach sprang einmal ein Jäger drüber und fiel rückblickend vor Schreck über sein Wagnis tot um.
Das Prädikat Sehenswert gilt auch für die „Elegug Sea Stacks“, zwei solitäre, unter Naturschutz stehende Felsen, auf denen sich hunderte Guillemots versammeln, Seevögel, die die Felsen und deren Aufwind brauchen, um fliegen zu können. Wesentlich variantenreicher eine knapp zwölf Kilometer lange Etappe, die von der Ortschaft Angle am äußersten Punkt von South Pembrokeshire südostwärts zum Strand von Freshwater West führt. Etliche kleine Bäche schnitten Schneisen in die Küste, die zu Ab- und Aufstiegen zwingen, Heidekraut und Ginster tauchen die Küste in ein Farbenspektakel aus Lila und Gelb.
Der Strand kündigt sich schon lange vor Erreichen durch den Boden unter den Füßen an. Harter Fels weicht blondem Sand, aus Klippen werden Dünen, und vor dir öffnet sich ein spektakulärer Sandstrand mit wuchtigen Wellen.
Cineasten wissen, dass hier nicht nur Teile von „Harry Potter“ gedreht wurden, sondern für den Hollywoodblockbuster „Robin Hood“ mit Russell Crowe auch die Schlacht gegen die Franzosen. Küstengeher aber finden hier den erfrischenden Abschluss zu einem erfüllenden Wandertag. Freshwater West ist einer der besten Surfstrände der Insel – aber bis dato noch immer ein Geheimtipp.