Watzmann, wir kommen!
Der versteinerte König, seine reizende Gemahlin und ihre fünf Kinder. Die schönste Bergfamilie Deutschlands lädt ein: mit entspannten Wanderungen, spannenden Kletterrouten, feiner Kulinarik und Menschen, die den Mythos Watzmann lieben und leben.
Tobias Micke für das Bergweltenmagazin März 2015
Von den Fichten tropft der Morgennebel hinunter ins Moos. Außer uns sind nur die Kühe unten auf der Kührointalm schon auf den Beinen und begleiten unseren Aufstieg mit einem stimmungsvollen Glockenkonzert.
Gleich wird die Sonne im Osten hinter dem Hagengebirge über den Horizont steigen, unbemerkt von den Berchtesgadenern, den Bewohnern von Ramsau, Stanggaß und Schönau im Tal, für die der Tag unter einer dichten Wolkendecke beginnt.
Immer wieder liegen gewaltige Baumstämme quer über dem Pfad, der sich zwischen Felsen und dicken Wurzeln, Brombeergestrüpp und Bergkiefer-Strauchwerk nach oben schlängelt. Rutschige Hindernisse, umgefallen im letzten großen Sturm oder einfach, weil ihre Zeit gekommen war. Im Nationalpark Berchtesgaden, zu dem das Watzmann-Gebiet gehört, bleiben diese Riesen liegen, bis der Waldboden sie sich zurückgeholt hat.
Und wer hier entlang will, von den Kühroint-Kühen über 900 Höhenmeter hinauf zum Haupt der Watzmannfrau, zur versteinerten Gemahlin von König Watzmann, der sollte ohnehin ein wenig klettern und kraxeln können.
Für Nina und Florian, Berchtesgadener Freunde aus Jugendtagen, ist diese Tagestour auf den Kleinen Watzmann ein Kinderspiel, selbst die Schlüsselstelle, die uns in etwa einer Stunde erwartet, der sogenannte „Gendarm“. Für Nina Schlesener, weil die 31-Jährige hochalpin in aller Welt unterwegs und seit vier Jahren Deutschlands jüngste Bergführerin ist. Ausgebildet von den Besten der Besten im Bergsteigen, Klettern, Tourengehen, Geländeskifahren und natürlich im Führen von Gästen.
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Kalkstein-Vertikale über 250 Höhenmeter
Für Florian Kastner, weil er fast jeden freien Tag am Berg verbringt, wenn es Frau und Kinder und das Geschäft zulassen. Aber auch, weil der Metzger von Berchtesgaden für Weißwurst, Hirschschinken und Enziansalami sowieso täglich noch vor Morgengrauen aus den Federn muss.
Und weil er in jahrelanger Kleinarbeit mit seinem Kumpel Tobias Resch an der Westwand unseres heutigen Ziels die anspruchsvollste Kletterroute des gesamten Watzmann-Massivs erschlossen hat: eine sechs- bis achtstündige Kalkstein-Vertikale über 250 Höhenmeter mit Einstieg am Watzmannkar, wo sich im Winter die Tourengeher tummeln. Schwierigkeitsgrad 9+.
Abseits viel begangener Pfade und in den Fels gehauener Stufen, abseits der traditionellen Watzmannüberquerung und der berühmten Ostwand wollen uns Nina und Florian ihr „Watzmann-Erlebnis“ zeigen.
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Dass es für Florian, der auch am Berg auf den Spitznamen „Metzger“ hört, heute nicht um die Wurst geht, merkt man ihm deutlich an. Er strahlt übers ganze Gesicht, blödelt mit Nina über Jugendsünden und bedient sich an den Him- und Heidelbeeren, die entlang des Weges wachsen. Allein daran, dass man sich nur nach ihnen zu bücken braucht, erkennt man, wie wenig diese wunderbare Route begangen wird.
Etwa eineinhalb Stunden sind es mit dem Mountainbike vom Gästeparkplatz an der Wimbachbrücke in Ramsau bis zur Kührointalm – am Rückweg ist man dann mit dem Rad natürlich auch flott wieder im Tal. Fußgänger brauchen für die Strecke rund zwei Stunden. Wenn man diese schon am Vortag bewältigt, kann man auf der Kühroint im Bergsteigerzimmer schlafen und sich zum Nachtmahl köstliche Spinatknödel bestellen. Dann ist die Tour auf den Kleinen Watzmann deutlich gemütlicher.
Der Gendarm lässt nicht jeden passieren
Der Aufstieg von dort über den Kederbichl bis zum „Gendarmen“ ist technisch auch für Laien keine Hexerei, gute Kondition und ordentliches Schuhwerk vorausgesetzt. Phasenweise nimmt man die Hände zu Hilfe, um nach Latschen zu greifen oder durch kurze Rinnen zu klettern.
Erst der „Gendarm“ verlangt dann, sich auszuweisen – als schwindelfrei und trittsicher, obwohl auch diese Schlüsselstelle technisch eigentlich leicht ist. „Der Gendarm heißt so“, erklärt Nina mit vielversprechendem Lächeln, als wir nach rund 1,5 Stunden mit kleinen Trinkpausen vor Ort sind, „weil er eben nicht jeden einfach so vorbeilässt“. Und als wir uns die Stelle an der Kante zum Watzmannkar genauer ansehen, ist sofort klar, warum.
Ruhige Hände sind jetzt gefragt
Beim Umklettern (Nina nennt das „Umsteigen“, und bei ihr sieht es auch wirklich elegant aus) eines Felsvorsprungs steht man mit einem Fuß auf einem sicheren, aber sehr einsam daliegenden Tritt, darunter geht es senkrecht 40 Meter in die Tiefe. Das kostet mächtig Überwindung und vor allem Vertrauen in die eigenen (hoffentlich ruhigen) Hände. Der Metzger bringt es auf den Punkt: „Wennst danebengreifst, bist weg.“
Dann im Zweifel doch besser mit Seilsicherung, das gibt den nötigen psychischen Rückhalt. Ein wenig später kommen wir zur Ausstiegsstelle von Florians Klettergustostück. Als er uns das Tourenbuch zeigt, das in einem Plastiksack in einer Felsspalte steckt und über das jeder „stolpern“ muss, der die Route tatsächlich gegangen ist, spürt man, wie stolz er ist.
Als Erfinder durfte er seiner Route natürlich auch einen Namen geben, was oft zu seltsamen, manchmal (mit guter Kinderstube) zu unaussprechlichen Bezeichnungen führt. Er hat sie aber nicht „Gib Gummi“ genannt oder „Viagra“, sondern wunderhübsch und märchenhaft „Im Bann der Königin“: „Schließlich sind vom ersten Versuch im Jahr 2004 bis zum Rotpunkt – also dem ersten kompletten Durchstieg – zwei Jahre vergangen: Es braucht halt doch einige Stunden, bis man überhaupt vor Ort, beim Wandfuß, ist. Und wenn dann das Wetter umschlägt, kann man gleich wieder zsammpacken.“
Als wir nach einer weiteren halben Stunde über steile Felsplatten auf 2.307 Metern den Gipfel erreichen, hat uns die Königin ebenfalls in ihren Bann gezogen. Von hier aus und schon auf dem letzten Anstieg genießt man einen malerischen Ausblick. Über den Königssee mit seinen Spielzeugschifferln auf der Fahrt nach St. Bartholomä, wo auf halbem Weg gerade das Echoblasen mit Trompete vorgeführt wird.
Weiter hinüber zum Aussichtspunkt Feuerpalfen auf der Gotzenalm. Rechts von uns die fünf Watzmannkinder, der Watzmann selbst mit Hocheck, Mittelspitze und Südspitze und – wie eine hochalpine Puppenstube – das Watzmannhaus, wo wir anderntags einkehren werden. Das Allerschönste: Wir sind auf diesem Gipfel allein.
Oder fast: Ein paar Bergdohlen haben uns und vor allem unsere Jause erspäht und kommen zum Schnorren. „Die da“, sagt der Metzger und zeigt auf ein besonders pummeliges und freches Exemplar, „die ist sicher vom Hocheck herüber gesurft. Die ist so verfressen, die kriegt da drüben von den Wanderern bestimmt täglich sechs volle Mahlzeiten serviert.“
Ein Eintopf für Stanic, den Erstbesteiger
An einem Wochenende wie diesem ist drüben beim Watzmannhaus, das als Zwischenstation für die beliebte Watzmann-Überquerung dient, richtig viel los. Annette und Bruno Verst sind seit 17 Jahren von Mai bis Oktober Hüttenwirte in dem ehrwürdigen, 1888 erbauten Gebäude des Deutschen Alpenvereins.
Er hat eigentlich Steinmetz gelernt, sie Physiotherapeutin, ihr 15-jähriger Sohn Paul kennt das allsommerliche Bergerlebnis, seit er sechs Wochen alt ist. „Uns gefällt einfach das Leben hier oben“, sagt Annette. „Das Haus steht hier auf dem Falzköpfl traumhaft da, die Wetterextreme, die man erlebt, sind beeindruckend.“
Auf 1.930 Meter Seehöhe pro Jahr an die 10.000 Nächtigungen nebst Speis und Trank zu bewältigen ist trotz der Hilfe einer Materialseilbahn eine gewaltige logistische Leistung, da braucht es schon Willensstärke. Annette, die die Küche schupft, legt großen Wert auf frisch gekochtes Essen, das sich in der kleinen, aber feinen, für die exponierte Lage überraschend preiswerten Speisekarte findet. Die Gerichte (wie der deftige Stanic-Eintopf, benannt nach dem Erstbesteiger des Watzmanns) sind so ausgewählt, dass möglichst alles verwertet werden kann.
Jammern auf hohem Niveau
„Nachhaltigkeit, Umgang mit knappen Ressourcen wie Strom und Trinkwasser, das sollen die jungen Leute, die bei uns arbeiten, fürs Leben lernen“, erklärt Annette und deutet augenzwinkernd auf ein Hinweisschild vor den Waschräumen. Dort steht: „Gehen Sie bitte mit dem Wasser so um, wie wenn keines da wäre.“
Nicht nur daran merkt man, dass die erfahrene Hüttenwirtin einen geschulten Blick für das Wesentliche hat. Von ihr stammt auch der Tipp, den kaum begangenen Kleinen Watzmann zu erkunden.
Und sie empfiehlt uns gleich eine weitere unterschätzte Wanderspezialität für den nächsten Tag: „Die meisten Besucher gehen ja die Watzmann-Überschreitung, weil man von dort auch in die berüchtigte Ostwand hineinschauen kann. Und dann sitzen sie beim Abendessen bei uns in der Hütte und jammern darüber, dass sie nach dem langen Abstieg ins Wimbachtal noch den langen Weg über das Gries hinauslatschen müssen. Dabei ist das Wimbachgries wirklich etwas ganz Besonderes, wenn man ein Auge dafür hat.“
An schönen Wochenenden ist das Wimbachtal auf der Rückseite des Watzmanns ein beliebtes Ausflugsziel für Familien. Der Weg neben dem Gries, einer riesigen Fläche aus Stein und Geröll, ist breit und sogar mit guten Kinderwagen befahrbar, am Wasser des Wimbachs lässt es sich ausgezeichnet spielen. Ein Vater sitzt mit seinen beiden Buben zwischen den Steinen und bastelt aus alten Drahtkleiderbügeln, ein paar Sektkorken und halbierten hölzernen Eisstaberln fabelhafte Wasserräder.
Nach einer Stunde leichten Fußmarschs gelangt man von der Wimbachbrücke zum Wimbachschloss, der ehemaligen Jagdresidenz von Prinzregent Luitpold. Die Welt ist klein im Berchtesgadener Land, und so will es der Zufall, dass sich hier der Kreis rund um den versteinerten König und seine Königin nicht nur geografisch schließt.
Denn Wirtin im Wimbachschlössl ist Kathrin Strobl, die große Schwester unserer Bergführerin Nina. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Sebastian Lichtmannegger führt sie dort ein wunderbares Gasthaus, das besonders im Herbst Feinschmecker anzieht.
Gamsgulasch am Steinernen Fluss
Rund 20 Stück Rotwild, 30 Gämsen und das eine oder andere Wildschwein liefern die Jäger des Nationalparks jedes Jahr zum Wimbachschlössl. Daraus werden dann Braten, Hirschschinken, Gamssalami, Wildeintopf und Gamsgulasch gemacht oder – einfach, aber gut – Nudeln in Wild-Hackfleischsoße mit geriebenem Bergkäse.
Alles, von der Vorspeise bis zum Kuchen mit Eiern aus dem Hinterhof, wird selbst hergestellt. Außer einer besonders köstlichen Kleinigkeit: dem Wildschinken. Hierfür kommt Metzgermeister Florian Kastner höchstselbst regelmäßig hinaus zum Wimbachschloss und zaubert vor Ort.
Solcherart gestärkt kann man weiter taleinwärts zur Wimbachgrieshütte wandern, oder man nimmt sich auf dem Rückweg einfach Zeit für das spektakuläre Gries. Der Trick dabei: nicht den parallel laufenden Wanderweg zurück nach Ramsau nehmen, sondern direkt über das Gries bis zur sehenswerten Wimbachklamm gehen.
Das Gries ist ein im oberen Bereich mehrere hundert Meter breiter Schuttstrom aus Dolomitgestein, der bei Starkregen großflächig Wasser führt. Bei Schönwetter fließt das Wasser unterirdisch ab und das Gries ist ein leicht zu durchwandernder steinerner Fluss, in dem vom Fels glatt geschliffene Baumstrünke wie Skulpturen aufragen. Die eigentliche Felssohle (sozusagen das steinerne Bachbett), so wird erzählt, liegt sagenhafte 300 Meter unter dem heutigen Wanderniveau.
Solche und andere eindrucksvolle Zahlen kann man jederzeit von Hans Stanggassinger bei seinen Führungen durch den Nationalpark bekommen. Hans, so sagen seine Kollegen, gehört zum Urgestein des Nationalparks Berchtesgaden, der 1978 gegründet wurde, um ein Skigebiet abzuwenden.
„Der Watzmann ist eigentlich ein Afrikaner!“, sagt Hans und rüttelt damit regelmäßig seine Zuhörer wach. Dann fügt er nach einer Pause hinzu, wie das gemeint ist, nämlich dass die Alpen durch eine Verschiebung der afrikanischen Kontinentalplatte vor zirka 140 Millionen Jahren entstanden sind. Das erklärt auch die sogenannten Kuhtritte, oft huf- und herzförmige Zeichnungen im Fels, die man zum Beispiel kurz vor dem Gipfel der Watzmannfrau findet: „Das ist Muschelkalk – versteinerte Muscheln, die im Querschnitt betrachtet solche lustigen Muster ergeben.“
Fragt man den Hans nach seinem Lieblingsplatzl im Watzmanngebiet, muss er nicht lange nachdenken: „Das Watzmann-Labl, eine abgelegene Almwiese am Fuße der Ostwand, von der man gut 1.000 Höhenmeter hinunter auf den Königssee schaut.
Inzwischen hat es leicht zu regnen begonnen. Wenn das Wetter nicht mitspielt, dann gibt es für Kletterfetischisten immer noch eine Alternative: das Bergsteigerhaus Ganz in Strub, mit zwei Hallen, die insgesamt 200 Kletterrouten zum Üben bieten.
An einer der 20 Meter hohen, kunterbunten Puzzle-Wände steht ein Vater mit seinen drei Kindern. Während die zwei Buben sich beim Klettern gegenseitig sichern, zeigt das jüngste, ein siebenjähriges Mädchen, ihrem Papa gerade zur Kontrolle den Sicherungsachterknoten, den sie an ihrem Gurt befestigt hat: „Fast, mein Herzchen. Ich glaub, jetzt hat dich der Mann mit der Kamera abgelenkt ...“
Der legendäre Extremkletterer Thomas Huber, der gemeinsam mit seinem Bruder Alex einige der schwersten Felswände und Gipfel der Welt bezwungen hat, verbringt hier gerne Schlechtwetterfreizeit mit seinen Kindern Elias, Amadeus und Philumea.
Auch für uns Amateure hat er ein paar Tipps parat: „Das beste Gebiet zum Klettern in der Region ist die Westwand des Kleinen Watzmanns, wo ihr ja gestern wart. Wennst allein sein willst auf einer Tour, dann geh hinauf zur Jungfrau, dem 4. Watzmannkind.“ Und während er seiner Tochter stolz beim Bezwingen einer 6er-Linie mit Überhang zuschaut, fügt er hinzu: „Der Watzmann ist faszinierend, für mich einer der schönsten Berge der Welt.“