Eselwandern: Starker Wille, sanfte Nase
Auf einer Eselwanderung durch das Mariazellerland lernt man Tier und Mensch auf ganz neue Art und Weise kennen.
Text: Heidi List für das Bergwelten-Magazin April/Mai 2020
„Auf geht’s, wir packen’s!“ ruft Judita van den Berg. Mit strengem Blick kontrolliert sie, ob die Esel fachgerecht gesattelt worden sind. Und ob die Packtaschen an den Seiten gleich gewichtet hängen. Das macht das Eselleben auf Tour leichter. Wir sind in Oisching, beim Lasingerhof. Hier machen die Schützlinge des „Eselreiches“ aus dem Halltal bei Mariazell Station, wenn sie unterwegs sind.
Seit einigen Jahren organisieren die Tschechin Judita und ihr holländischer Ehemann Michiel Touren durch das Mariazellerland, die zwei bis sieben Tage dauern. Bis zu zwanzig Kilometer legt eine Wandergruppe pro Tag zurück, je nach Wetter und Erreichen des Tagesziels. Denn das bestimmen: die Esel. Wir sind die Neuen, gerade erst zu der Gruppe dazugestoßen.
Mein Sohn Ferdinand und seine Freundin Mia sind auch dabei, beide elf Jahre alt. Und natürlich unsere tierische Begleitung: Eselwallach Vili. Ich blicke ihm in die großen braunen Augen mit den langen Wimpern. „Sei gnädig, Vili“, flüstere ich ihm zu. Ich habe ein bisschen Respekt vor dem Abenteuer. Über einen Feldweg geht es langsam leicht bergauf in Richtung Wald, ein Tier hinter dem anderen.
Judita erklärt uns, woher Esel ihren Ruf als störrische Tiere haben: Sie neigen bei Stresssituationen zum Innehalten. „Ein Esel wird niemals, wirklich niemals etwas tun, worin er keinen Sinn sieht. Das macht ihn doch zu einem klugen Tier, nicht wahr?“ Judita lacht.
Ich merke bald, was sie damit meint. Als Vili stehen bleibt, will ich ihn mit streng angezogenem Führstrick weiterziehen. Aber diese Strategie geht nicht auf. Judita bittet mich, stattdessen mit liebevoller Autorität voranzugehen. Ratlos blicke ich den Kindern nach, die mit ihrem Esel in schwingendem Gleichklang voranschreiten.
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Sie haben das wohl intuitiv verstanden. Vili hat schließlich Erbarmen und setzt sich wieder in Bewegung – weil er sich dazu entschieden hat. An einer Lichtung breitet sich ein Plateau mit saftigen Wiesen aus. Die Bäume geben einen atemberaubenden Blick auf die Berge des Mariazellerlandes frei.
Vili wird schneller; er weiß, dass bald der gemütliche Teil des Tages kommt. Der Bauer, auf dessen Alm wir einkehren, hat um eine kleine Hütte herum einen provisorischen Zaun gebaut. Dorthin führen wir unsere Tiere und satteln sie ab. Sie beginnen sofort zu grasen. Wir machen es uns an dem einladenden Tisch vor der Almhütte bequem. Es ist ein alter Holzbau, weit über hundert Jahre alt. Es duftet nach Gulaschsuppe und Kaffee.
Während unserer Rast erzählen alle Anekdoten über „ihren“ Esel. Judita beobachtet es mit einem Schmunzeln. Der Zauber der Eselwanderung hat in der Gruppe bereits gewirkt. Dann beobachten wir die grasenden Esel, ein friedliches Bild.
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Disteln sind Leckerbissen
Aber was bei der Rast entspannend wirkt, kann auf der Tour die Geduld strapazieren. An manchen Stellen muss Judita den Weg suchen, wir bleiben dann stehen; und die Esel senken sofort die Köpfe, um über die Distelwiese zu grasen. Sie davon abhalten zu wollen wäre ein sinnloses Unterfangen, schließlich sind Disteln für sie besondere Leckerbissen, ein Relikt aus der Zeit ihrer Ahnen, die aus Nordafrika stammen.
Ihre Herkunft führen sie uns auch bei der Ankunft am Lasingerhof vor Augen: Trotz der Hitze kommen sie gemächlich auf der Koppel an, stürzen sich nicht sofort auf die Kübel. „Sie brauchen sehr wenig Wasser“, erklärt Judita. Als sie abgesattelt sind, schmeißen sich die Esel geradewegs auf den staubigen Boden und wälzen sich genüsslich; mein Vili allen voran. Wir sehen ihnen noch eine Weile zu, dann sperren wir das Tor doppelt und dreifach ab. „Sie sind die Houdinis unter den Tieren“, meint Judita. Denn Esel sind Ausbrecherkönige. Sie beobachten genau, wie der Mechanismus eines Schlosses funktioniert. „Wirklich klug“, denke ich.
Bei unserer wohlverdienten Bretteljause rätseln wir, wie es denn dazu kam, dass diese Tiere, die wir kennenlernen durften, die so einen starken Willen haben, in aller Welt unter größten Entbehrungen sich als Nutztiere bewähren konnten. Manche Wirtschaftszweige etablierten sich buchstäblich auf den Rücken der Esel.
Seit über 6.000 Jahren wird reger Handel mit ihnen betrieben. Judita erzählt uns von der unglaublichen Duldsamkeit der Tiere. Esel halten sehr viel aus, sind genügsam, was Wasser und Nahrung betrifft, und bewegen sich auch unter Schmerzen so lange fort, bis sie nicht mehr können. „Das macht die Arbeit, also auch das echte Training, mit ihnen so spannend“, fügt sie hinzu. „Man lernt viel über sich, wenn man sich den Eseln widmet. Vor allem darüber, ob ein Ansinnen sinnvoll ist oder nicht. Vielleicht hat ja manchmal der Esel recht, wenn er einfach nicht weitergehen will. Oder zwanzig Minuten braucht, um einen perfekten Platz für seine Notdurft zu finden – na und?“
Als wir uns am nächsten Morgen bei den Eseln einfinden, sind gottlob noch alle da, keiner ist über Nacht ausgebüxt. Beinahe schon routiniert wird wieder gestriegelt, die Hufe werden gereinigt, die Sättel aufgelegt und die Satteltaschen angegurtet. Geplant ist eine Route durch den Ort Gußwerk, über einen kleinen Bergsattel wieder zurück Richtung Mooshuben und schließlich weiter ins Halltal, in das Eselreich. Allerdings ist schlechtes Wetter angesagt, es wird wohl ein Wettlauf mit der Zeit. Esel sollen nicht im Feuchten gehen: Ihre Hufe sind anfällig und weichen bei zu viel Nässe auf.
Ein Esel im Herzen
Der Tross setzt sich in Gang, in der gewohnten Reihenfolge. Es geht ein Stück über die Landstraße in Richtung Gußwerk. Auch als uns einige Autos überholen, bleiben die Tiere ruhig. Judita erklärt, dass die Esel spüren, wenn ihre Führer Vertrauen in die Gruppe bekommen haben. Das macht auch sie ruhig. Mich befällt leiser Stolz. Als wir eine Brücke überqueren müssen, sind die Rollen auf einmal vertauscht: Vili strahlt dabei mehr Ruhe aus als ich mit meiner Höhenangst.
Als mittlerweile eingespieltes Team wandern wir durch den Wald. Ein prächtiger Pfad geht an einer Felswand entlang, links hinunter öffnet sich die Schlucht zur Salza, üppig bewachsen mit Sträuchern und Bäumen. Judita sieht besorgt zum Himmel, der sich immer mehr zuzieht. Dicke Regenwolken hängen über uns. Als wüssten die Esel, worum es geht, gehen sie forschen Schrittes los, schneller als je zuvor. Ganz geht es sich trotzdem nicht aus: Ein üppiger Guss bricht auf den letzten Metern über uns herein.
Wir können uns in dem strömenden Regen gar nicht richtig verabschieden, ich sehe nur noch Vilis Ohren durch das Stallfenster. Die Kinder sind müde, aber glücklich. Schnatternd steigen sie in das Auto. Ich verabschiede mich von Judita. Man sieht ihr an, dass sie sich darauf freut, nach ihren anderen Eseln zu sehen.
Sie schmunzelt. „Ich glaube, ich bin auch wie ein Esel. Ich tue nichts, ohne zu wissen, wozu es gut sein soll.“ Ferdinand steigt aus dem Auto und läuft noch einmal zu Vili in den Stall. Er streichelt ihm zum Abschied über das weiche Fell um die Nüstern. „Nichts ist samtener“, sagt er. Bei der Heimfahrt zurück in die Stadt haben wir einen großen Sack an Erlebnissen im Schlepptau – und Vili, den Esel, im Herzen.